Dieses mehrfach gerissene und mehrfach wieder zusammengeknotete Seil diente meiner Mutter und mir bei einer Pflanzensammelexpedition in Kenia im Frühjahr 1987 erst als Abschleppseil und dann als Verschlussmechanismus für einen auf einem Flug aufgegebenen Sack mit überschüssigem Gepäck. Wie die geflochtenen Untersetzer, die wir irgendwann in den 1980er Jahren aus einem der von uns bereisten afrikanischen Länder mitbrachten, ist auch dieses Seil mit mir von Hamburg nach Marburg, von Marburg nach Mainz und dann wieder von Mainz nach Hamburg umgezogen. Bis heute liegt es auf einem Regal in unserem Wohnzimmer – ein bisschen zur Dekoration, und ein bisschen mehr zur Erinnerung.
Auf der 1987er Reise nach Kenia fuhren wir von Nairobi aus nach Norden, gemeinsam mit einem Kollegen meiner Mutter, der in Nairobi an der Universität arbeitete. Am 7. März 1987 überquerten wir – wie ich den knappen Tagebucheinträgen meiner Mutter entnehme* – den Äquator. Wir hielten kurz an, um einen Stein als Mitbringsel für meine Leistungskurs-Geschichtslehrerin mitbrachte, die irgendwann in ihrem bewegten Leben auch einmal in Kenia gelebt hatte – und mir dann später in ihrem Testament u.a. zwei silberne Kerzenleuchter vermachte. Wir erreichten abends den Lake Baringo und trafen dort einen weiteren Botanikerkollegen, der David hieß und aus Australien kam.
In der Nacht am See wurden meine Mutter und ich nacheinander von ungewöhnlichen Geräuschen geweckt. Als wir am nächsten Morgen unsere beiden Begleiter darauf ansprachen, dass sie doch sehr laut geschnarcht hätten, waren beide gleichermaßen verwundert und erwiderten, dass wir doch sehr laut geschnarcht hätten. Gemeinsam entdeckten wir dann im unmittelbaren Umfeld der Zelte Spuren von Nilpferden.
Auf der Weiterfahrt gen Norden fiel die Stoßstange von Davids Auto ab, und wir banden sie mit einem langen Seil, das wir zufällig dabei hatten, auf unserem Autodach fest. Außerdem zeigte sich ein Leck an unserem Tank, das wir mit Seife abdichteten. Beide Schäden wurden durch einen Automechaniker in Maralal behoben. Zwei Tage später versagte die Batterie von Davids Auto am Abend kurz vor dem Aufbau der Zelte. Er musste deshalb über Nacht so am Hang parken, dass er am nächsten Morgen von dort losrollen konnte, ohne das Auto starten zu müssen. Irgendwann unterwegs trafen wir Hirten mit einer Kamelherde, die uns auf Swaheli fragten, ob wir irgendwo an Wasser vorbeigekommen waren („maji“). Einer der Hirten verguckte sich in ein großes Herrentaschentuch, das wir zum Trocknen über eine Autositzlehne gelegt hatten, und wir schenkten es ihm. Er knotete es an seinen Hirtenstab und zog mit seiner Herde weiter.
Am 12. März 1987 erreichten wir Moyale, einen Grenzort zwischen Kenia und Äthiopien. Wir übernachteten in einem Hotel, dessen Zimmer um einen Innenhof herum lagen, in dem eine große Wassertonne zur Körperpflege bereit stand. Wer die Tonne nutzte, fing an zu singen, um andere darüber zu unterrichten, dass das Badezimmer besetzt war. Drei Tage später auf dem Rückweg nach Süden begann unser Auto soviel Kühlwasser zu verlieren (oder zu verbrauchen?), dass wir alle paar Kilometer nachfüllen mussten. Als nach mehreren Nachfüllungen der Motor nicht mehr ansprang, schleppte David uns ab – und zwar mit Hilfe desselben Seils, das seine Stoßstange auf unserem Dach gehalten hatte. Das Seil riss unterwegs immer wieder, und wir knoteten es über gute 100 Kilometer immer erneut und immer kürzer zusammen, bis wir am Abend Marsabit erreichten.
Unser Auto konnte ohne ein fehlendes Ersatzteil in Marsabit nicht repariert werden. Also packte David unsere Sachen in sein Auto um (um später einen Teil davon per Luftfracht nach Nairobi zu schicken – in einem Plastiksack, der mit dem jetzt schon vielfach zum Einsatz gekommenen Seil verschlossen war). Wir anderen drei – meine Mutter, ihr Arbeitskollege aus Nairobi und ich – buchten Plätze in einem Bus, der uns am nächsten Tag bis ins rund 260 Kilometer entfernte Isiolo bringen sollte. Der Bus hielt mehrfach auf der Strecke, um Leute ein- und aussteigen zu lassen. Irgendwann unterwegs stieg ein altes Turkana-Paar in den Bus, unbekleidet bis auf Schmuck und Schnüre an Arm- und Beingelenken und offenbar ohne reservierte Plätze. Der Mann stellte einen Blecheimer mit Wasser in den Gang; die Frau setzt sich darauf, er hockte sich daneben. Hin und wieder schöpften sie mit der hohlen Hand Wasser aus dem Eimer und tranken. Die beiden und ihr selbstverständliches Auftreten sind für mich bis heute das Bild, das mir in den Kopf kommt, wenn irgendwo an die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit erinnert wird. Jemand erzählte, dass es zwei Tage zuvor einen Busüberfall gegeben hatte, bei dem 13 Menschen erschossen worden waren. In Isiolo wechselten wir am Abend vom Bus in ein Taxi, das uns die nächsten 260 Kilometer bis nach Nairobi bringen sollte. Irgendwann im Dunkeln hielt der Fahrer irgendwo auf der Strecke an, stieg aus dem Wagen und machte sich am Kofferraum zu schaffen. Wir hielten die Luft an. Er ging ums Auto herum und rief uns durch das Fenster zu: „I want to sala“. Nachdem er mit seinen Gebeten fertig waren, fuhren wir weiter.
Zum Abschluss der Reise fuhren wir noch für zwei Tage in den Tsavo Park, sammelten (natürlich) weitere Pflanzen und kauften Schmuck und Körbe. Wir übernachteten nicht in der Voi Lodge im Park, die uns zu teuer war, sondern in einer „Gloria Lodge“ im Ort Voi. In der Nähe von Voi war im Mai 1931 Denys Finch Hatton abgestürzt – der Jäger, Abenteurer und Liebhaber von Karen Blixen, den Robert Redford in „Out of Africa“ spielte. Am allerletzten Tag vor unserer Abreise gingen wir zum Mittagessen im Norfolk Hotel, das seinerzeit nach einem Bombenanschlag von 1980 noch nicht lange wieder aufgebaut worden war. Wir saßen auf der Terrasse und es gab – wie meine Mutter detailliert dokumentiert hat: „Avocado mit Vinaigrette, Shrimp Cocktail, Caesar’s Salad, Fish and Chips, Ananaspie, starker Kaffee“.
Auf dieser (oder auf der vorigen?) Reise nach Kenia notierte ich mir ein Zitat von Beryl Markham, die 1932 als erster Mensch alleine über den Atlantik flog, unter dem Namen „Felicity“ als spätere Liebhaberin von Denys Finch Hatton am Rande von „Out of Africa“ auftauchte und erst im August 1986 in Nairobi gestorben war: „Nobody who has ever loved Africa will ever escape it; it haunts you until you die“.
* Meine Mutter führte auf ihren Forschungsreisen drei parallele Tagebücher. Das erste, ein fest gebundees Heft im DIN A5 Format, war das sogenannte Sammelbuch. Es enthielt eine genaue Auflistung der gesammelten Pflanzen, jeweils mit geographischen Koordinaten und Angaben zur unmittelbaren Umgebung. Das zweite, das Fotobuch, enthielt Notizen zu allen aufgenommenen Fotografien, um später nach dem Entwickeln der Filme die Fotos den Sammelorten und den gesammelten Pflanzen korrekt zuordnen zu könnne. Das dritte, ein kleines Oktavheft, diente als Tagebuch, in dem meine Mutter allerlei Informationen über den Ablauf der Tage notierte – vom Wetter über Begegnungen und Erlebnisse auf dem Weg bis zu den Bestandteilen der Mahlzeiten. Für diesen Blog-Artikel habe ich von meinem Vater das passende Tagebuch der 1987er Reise ausgeliehen, um meine Erinnerungen mit den Notizen meiner Mutter abzugleichen.