ring mit stein

Diesen Ring mit einem kleinen Stein habe ich von meiner Großmutter väterlicherseits  – genannt „Oma“ – geschenkt bekommen. Wann genau, weiß ich nicht mehr. Ich vermute aber, dass sie ihn mir zu einem Anlass schenkte, bei dem eigentlich jemand anders – wahrscheinlich meine Schwester – beschenkt wurde. Dieser Anlass könnte die Konfirmation meiner Schwester Ende der 1980er Jahre, ihr Abitur Mitte der 1990er Jahre oder auch ihre Hochzeit Anfang der 2000er Jahre gewesen sein. Auf einem beiliegenden Zettel hat meine Oma (oder jemand für sie?) getippt: „Meine liebe Anja, Du sollst auch fröhlich sein, denn für Dich fiel mir noch mein Andenken von Tante Emmy ein. Es ist ein gutes Stück mit echtem Stein, der soll Dein Glücksbringer sein. Der Name im Deckel ist der von Tante Emmys erster großer Liebe“. Da ich sehr selten Ringe trage, habe ich den Ring bis heute nicht ein einziges Mal mehr als nur zum Anprobieren auf dem Finger gehabt.

Tante Emmy war eine der beiden Halbschwestern meiner Oma. Sie hieß eigentlich Emma. Die andere Halbschwester hieß eigentlich Marie, wurde aber die Tante Ichen genannt. Meine Oma hieß Wilma, war aber im Geburtsregister fälschlich mit dem Namen „Wilhelmine“ eingetragen worden, was sie ihr ganzes Leben lang so ärgerte, dass mein Vater ihr in hohem Alter zu einem runden Geburtstag die offzielle Eintragung ihres richtigen Namens schenkte. Tante Emmy wohnte in Alfeld an der Leine. Als die Hamburger Wohnung meiner Großeltern 1943 ausgebombt wurde, waren meine Oma und mein Vater gerade bei Tante Emmy und ihrer Familie zu Besuch. Dort blieben sie wohnen, bis sie nach dem Krieg nach Bad Oeynhausen zogen, wo mein Großvater väterlicherseits „beim Engländer“ arbeitete. Mein Großvater väterlicherseits, genannt „Opa Fritz“, war – wie meine Oma jedem gerne stolz erzählte – Repro-Fotomeister. Als Kind beeindruckte mich besonders, dass er eine Fotomontage hergestellt hatte, auf der er gegen sich selbst Schach spielte. Wenn ich bei meinen Großeltern zu Besuch war, trug Opa Fritz mich vor dem Schlafengehen „zum Toben“ auf den Schultern durch die Wohnung und warf mich mit Schwung auf das große, weiß lackierte Ehebett meiner Großeltern. Auf der etwa fünf Zentimeter breiten Fußteilkante des Bettes studierte ich später Seiltanzkunststücke ein.

Als ich drei Jahre alt war, starb Opa Fritz. In den darauffolgenden 1-2 Jahren war ich – „zum Trost“, wie meine Eltern sagten – häufiger und länger bei meiner Oma zu Besuch. Sie ging mit mir damals täglich zum Friedhof, um frische Blumen zum Grab zu bringen und jeden Hauch von Unkraut von der Grabstelle zu entfernen. Der Weg zum Friedhof – unter der Unterführung unter der Eisenbahn hindurch, über die Werre und durch die Flutwiesen, rund anderthalb Kilometer lang – kam meinen Kinderbeinen unendlich weit vor. In den Geschäften am Eingang zum Friedhof roch es stark und etwas modrig nach sehr aufgeblühten Blüten. Bis heute mag ich Schnittblumen und ihren Geruch nicht besonders gerne – vermutlich weil beides mich unterschwellig an meine müden Füße auf den Wegen zum Friedhof erinnert. Unterwegs besprach meine Oma mit mir ausführlich, wie lange sie aus Trauer Schwarz tragen müsse und wann der Wechsel zu einem dunklen Grau oder möglicherweise sogar Dunkelblau statthaft werden würde.

Opa Fritz hatte eine Schwester, die wir Tante Liesel nannten. Sie hatte einen Freund, den sie „Peter“ nannte, obwohl er eigentlich anders hieß. Wenn er über sie sprach, zitierte er gerne das Lied: „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt’…“. Eigentlich hieß Tante Liesel allerdings Louise. Sie reimte gerne „Peter“ auf „Schwerenöter“. Tante Liesel betrieb unweit der Wohnung meiner Oma in Bad Oeynhausen einen Friseursalon, in dem es intensiv nach den chemischen Mitteln roch, die für Dauerwellen und zum Haarefärben verwendet wurden. Tante Liesel trug zeit ihres Lebens blondierte, künstlich gelockte, hochtoupierte und mit vielen Haarklemmen festgesteckte Haare. Zur Begrüßung küsste sie mich immer mit einem sehr feuchten Tantenkuss.  Tante Liesel und Onkel Peter kamen häufiger zu meiner Oma zu Besuch, um mit ihr Skat zu spielen. Da die beiden auch ein Auto hatte, fuhren wir mit ihnen auch gelegentlich nach Alfeld, um dort Tante Emmy  zu besuchen.

In Tante Emmys Wohnung gab es in den 1970er Jahren keine eigene Toilette. Wenn man zur Toilette musste, musste man deshalb auf den Flur und eine halbe Treppe nach unten gehen. Auf dem halben Stockwerk befand sich eine Toilette, die von mehreren Parteien im Haus genutzt wurde. Dorthin zu gehen, war mir als Kind furchtbar unangenehm. Es war kalt und roch streng nach Urin, und ich fürchtete immer, einen unbekannten Hausbewohner auf der Toilette zu überraschen – oder selbst überrascht zu werden. Nachdem mein Vater mir erzählt hatte, dass früher in einem der oberen Stockwerke im Haus eine Dame gewohnt hatte, die durch eine Krankheit ihre Nase verloren hatte und eine künstliche Nase trug, wurde mir der Gang zur Toilette noch unheimlicher*.

Tante Emmy hatte zwei Söhne, die Eberhard und Ernst-August hießen. Ernst-August wurde in der Familie nur „E.A.“ genannt. Eberhard wurde von uns Eberhard genannt. Sowohl E.A. als auch Eberhard wurden von ihren Ehefrauen „Peter“ genannt. Beide sprachen viel und lachten laut, waren groß, hatten weiße Haare und kamen mir alt vor. Als Kind tat ich mich schwer, die beiden auseinanderzuhalten. Wenn wir bei Tante Emmy zu Besuch waren, kamen meiner Erinnerung nach oft einer oder beide ihrer Söhne sowie deren jeweilige Frauen ebenfalls vorbei. Die Wohnung war dann voller Erwachsener, die ununterbrochen miteinander redeten. Da es bei Tante Emmy – anders als bei meiner Oma – keine Spielsachen gab, beschäftigte ich mich mit mitgebrachten Puppen, Mal- und Zeichensachen oder – sobald ich lesen konnte – Büchern. Einmal gab Tante Emmy mir ihr Exemplar von „Der kleine Lord“, das ich in einem Zug durchlas. Das Buch faszinierte mich so, dass ich es am liebsten behalten und mitgenommen hätte. Ich hoffte inständig, dass Tante Emmy es mir vielleicht schenken würde, und wiederholte deshalb immer wieder, wie sehr mir das Buch gefallen habe. Tante Emmys einzige Reaktion war aber, sich darüber zu freuen, dass ich das Buch  gut gefunden hatte.

„Jeder Mensch sollte die Welt mit seinem Leben ein ganz klein wenig besser machen“, heißt es irgendwo in „Der kleine Lord“.


* Mein Vater merkt zu diesem Abschnitt an, dass die Toilette nur von den Leuten in Tante Emmys Wohnung genutzt wurde und dass die Dame ohne Nase nicht in Alfeld, sondern in Bad Oeynhausen in dem Haus wohnte, in dem er aufgewachsen war – und zwar nicht im Ober- sondern im Erdgeschoss.