Diese beiden Silberleuchter erhielt ich vor etwa vier Jahren aus dem Nachlass meiner ehemaligen Leistungskurs-Geschichtslehrerin Gabriele (genannt Gabi) Koeppen. In ihrem handschriftlichen Testament hatte sie festgehalten, dass ich neben den Leuchtern einen kinderfaustgroßen dunkelgrünen Steinfrosch, ein Paar Ohrhänger mit grünen, tropfenförmigen Steinen (mit Schraubmechanismus), eine Perlenkette und einen von außen als beigegrünen Trenchcoat gearbeiteten Pelzmantel erben sollte. An einem regnerischen Vormittag fuhr ich mit dem Fahrrad in Gabis ehemalige Wohnung in der St. Benedictstraße am Klosterstern, um die Gegenstände von ihrer Nachlassverwalterin zu übernehmen. Auf dem Rückweg transportierte ich die Plastiktüte mit dem Pelzmantel auf dem Fahrrad-Kindersitz, befestigt mit dem Anschnallgurt und einem Zahlenschloss. Alle anderen Erbstücke passten in meine Umhängetasche.
Gabis Wohnung befand sich in einem der wenigen moderneneren Häuser an der St. Benedictstraße im ersten Stock. Sie bestand aus einem großen Wohn-, Arbeits- und Esszimmer mit einem Balkon, der über die gesamte Breitseite des Zimmers reichte. Eine Wand war vollständig mit Bücherregalen bestückt; an den anderen Wänden hingen Gemälde und Zeichnungen. Statt eines Esstischs mit Stühlen gab es eine niedrige Sofa-Garnitur mit antiken, weiß bezogenen Sitzmöbeln und einem niedrigen Jugendstil- oder Gründerzeit-Tisch aus stark gemasertem Holz. Neben der Sitzecke öffnete sich ein Durchgang in eine winzige Küche; halb rechts zurück neben der Eingangstür führte eine Tür in Gabis Schlafzimmer, das ich nie betreten habe. Zwischen Küche und Schlafzimmer war ein kleines Bad eingeklemmt. Ich besuchte Gabi in meinen letzten Schuljahren und in meinen ersten Studienjahren häufig zum Tee. Sie zündete jedes Mal Kerzen an und servierte Tee und Gebäck auf einem Service aus Meissener Porzellan. Dabei rauchte sie fast ununterbrochen Philip Morris-Zigaretten („White“), die sie auch beim Teetrinken zwischen ihren makellos rot lackierten Fingernägeln hielt. Die Asche schnipste sie in einen streichholzschachtelkleinen, aufschiebbaren Aschenbecher aus Silber.
Gabi übernahm in der 12. Klasse unseren kleinen Geschichte-Leistungskurs. Wir beschäftigten uns zuerst mit den Auseinandersetzugen zwischen Rom und Karthago, dann mit der mittelalterlichen Stadt. Gegen Ende der 12. Klasse erkrankte Gabi so schwer, dass sie für den Rest meiner Schulzeit ausfiel. Bei ihrer Vertretung befassten wir uns ausführlich mit dem Vietnam-Krieg. Unter den Lehrern fiel Gabi auf, weil sie eleganter frisiert, geschminkt und gekleidet war, als die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie trug fast immer Kostüme oder Rock und Blazer, oft Blusen, manchmal seidene Halstücher und immer gediegenen Schmuck und einen Siegelring. Als damals Fünfzehn- und Sechzehnjährige war ich von Gabis Stil so beeindruckt, dass ich Kostüme und Schmuck meiner Mutter als Schulkleidung auslieh und von meinem mit Nachhilfeunterricht verdienten Geld einen Friseurbesuch bezahlte, bei dem ich mir die erste (und einzige) Dauerwelle meines Lebens machen ließ. In jener Zeit begann ich auch, meine Fingernägel zu lackieren und Lippenstift zu tragen. Meine Bemühungen waren so offensichtlich, dass sie in unserer Abiturzeitung als „die geheimnisvolle Doppelung der Frau Koeppen“ verewigt wurden.

Abiturzeitung 1989.
Mein erster Besuch bei Gabi fiel in die Zeit „zwischen den Jahren“ zum Jahreswechsel 1987/88. Ich hatte mich mit ihr bereits vor den Schulferien verabredet, um sie an einem der freien Tage zum Nachmittagstee zu besuchen. Ich freute mich über die Weihnachtstage täglich mehr auf die Verabredung – um so intensiver als in diesen Tagen meine Großmutter väterlicherseits bei uns zuhause zu Besuch war, und es zwischen ihr, meiner Mutter, mir, meiner Schwester und meinem Vater in ständig wechselnden Konstellationen unzählige kleinteilige Auseinandersetzungen über Haushalts- oder Lebensfragen gab. Am vereinbarten Tag klingelte bei uns das Telefon, ich nahm ab, und Gabi sagte mir, dass sie die Verabredung absagen müsse, weil sie erkältet sei. Meine Vorfreude schlug in jähe Verzweiflung um, und Gabis Anruf zum Trotz machte ich mich auf den Weg in die St. Benedictstraße, wo Gabi mir tatsächlich die Tür aufmachte und mir dann doch Tee und Plätzchen anbot. Während ich meinen Frust über die familiären Kabbeleien auf ihrem Tisch ablud, bügelte sie einen großen Stapel Blusen und Unterwäsche und verbrauchte mehrere Packungen Papiertaschentücher.
Gabi war unglaublich belesen und im besten Sinne bürgerlich-kulturell gebildet. Sie ging gerne ins Theater und handelte neben ihrem Lehrerberuf mit Kunst und Antiquitäten. Aus ihren Erzählungen entstand bei uns der Eindruck, dass sie aus einem alteingesessenen preußischen Großgrundbesitzergeschlecht stammte, gewissermaßen Seite an Seite mit Marion Gräfin Dönhoff gen Westen geritten war, sich mit Ländereien und Dienstboten bestens auskannte – und nebenbei irgendwann auch Afrika und Asien ausführlich bereist hatte. Tatsächlich gehörte ihr wohl ein Bauernhof in der Nähe von Peine (oder ein Teil davon), und sie war erst in den 1950er Jahren geboren. Anfang der 1990er Jahre kauften mein damaliger Freund und ich als Geschenk für Gabi einmal eine menschengroße, aufblasbare Veuve-Cliquot-Flasche.
In eigenartigem Gegensatz zu ihrer Weltläufigkeit war Gabi in manchen Dingen erstaunlich hilf- und orientierungslos. Bei unserer Leistungskurs-Reise nach Lüneburg (die ebenfalls in der Abiturzeitung dokumentiert ist) führte sie uns auf dem Weg vom Bahnhof zu unserer Unterkunft in der Straße „Am Sande“ ungefähr eine Stunde lang um die Stadt herum, obwohl der direkte Weg nicht weiter als 800 Meter gewesen wäre. Beim Autofahren verfuhr sich Gabi selbst in den ihr eigentlich bekannten Straßen rund um den Klosterstern oft so, dass sie in Einbahnstraßen gelangte, die sie zu komplizierten Umwegen zwangen. Bei einem meiner Besuche in ihrer Wohnung wollte sie im Toaster Waffeln für uns backen, die aber plötzlich Feuer fingen, so dass sie den Toaster samt Waffeln in die Spüle warf und mit fließendem Wasser löschte.
Gabi litt immer wieder unter Krankheiten, die sie fast nie offen benannte, die sie aber zu häufigen und langen Abwesenheiten aus der Schule und später zu einer frühzeitigen Beurlaubung von der Arbeit zwangen. Nachdem ich zum Studium nach Marburg gezogen war, schrieb Gabi mir regelmäßig Postkarten von ihren jeweiligen – mal exotischen, mal bodenständigen – Urlaubsorten, Grußkarten zu Weihnachten und Glückwunschkarten oder -briefe zu meinem Geburtstag. Auch darin erwähnte sie oft, dass sie sich wieder einmal einer Operation hatte unterziehen oder in eine Klinik hatte einweisen lassen müssen. Im direkten Gespräch zwischen uns kamen ihre Krankheiten nie vor. Kurz nachdem ich Ende der 2000er Jahre wieder nach Hamburg gezogen war, versuchte Gabi einmal, mich in meiner neuen Wohnung zu besuchen. Da ich nicht im Hause war, verpassten wir uns, und sie hinterließ an der Haustür einen Blumentopf mit einem handgeschriebenen Brief. Nach meiner Rückkehr nach Hamburg und bis zu ihrem Tod habe ich Gabi nicht wieder gesehen.
Als ich in Anfang der 1990er Jahre mit meinem Freund und meiner Familie in Dierhagen an der mecklenburgischen Ostseeküste Urlaub machte, besuchte Gabi uns dort für ein paar Tage. Ihren Besuch kündige sie mit einem Telegramm an, in dem stand: „ankomme dienstag +++ mitbringe kaese +++ gabi“.