Diesen Füllfederhalter von Montblanc habe ich mir irgendwann in den ersten Studienjahren in Marburg gekauft. Er war der direkte Nachfolger eines Pelikan-Aufziehfüllhalters, den meine Großmutter väterlicherseits mir zur Konfirmation geschenkt hatte. Dessen Vorgänger wiederum war ein Schüllfüller von Geha. Außerdem gab es zwischendurch noch diverse Federn und Füllhalter, die ich aus dem Besitz meiner Mutter ausgeliehen und zeitweise benutzt hatte.
Als wir in der Schule begannen, mit Füllhalter zu schreiben, kauften meine Eltern mir einen roten Geha-Füllhalter. Die meisten Kinder in meiner Klasse hatten damals einen Pelikan-Füllhalter, und außer mir gab es nur noch ein anderes Kind mit einem Geha. Obwohl ich mit dem Geha gut und gerne schrieb, fühlte ich mich mit ihm immer als Außenseiterin. Das lag vermutlich weniger am Füllhalter als vielmehr daran, dass meine Familie viele Dinge anders machte als die Familien der anderen Kinder in meiner Klasse. Beispielsweise hatten meine Eltern niemals ein Auto und auch niemals einen Fernseher – und als Kind empfand ich zeitweise, dass das Maß an Besonderheit mit diesen beiden Abweichungen von der Klassennorm ausgereizt sein müsse.
Zu meiner Konfirmation schrieb ich – wie damals üblich – eine lange Wunschliste, die (so war zumindest meine Vorstellung) auf alle verteilt werden sollte, die mir zu diesem Anlass etwas schenken wollten. Auf der Wunschliste stand auch ein „schöner“ Füllhalter – womit ich vor allen eine Aufziehfüllfederhalter meinte, der mit loser Tinte schrieb. Aus mir damals schon nicht nachvollziehbaren Gründen beschloss meine Großmutter väterlicherseits, sich für alle Geschenke von der Liste selbst verantwortlich zu fühlen. Ich bekam daher von ihr neben einem Knirps-Regenschirm (in einem recht scheußlichen braun-beigen Muster), einer Reisetasche aus bordeauxrotem Leder, dem Latein-Wörterbuch „Der kleine Stowasser“ (über das meine Oma nie müde wurde zu bemerken, dass sie gedacht habe, es handele sich um eine Abenteuergeschichte à la „Der kleine Wassermann“), diversen Handtüchern und Bettwäschepaketen („für die Aussteuer“) und vermutlich noch anderen Gegenständen, die mir gerade nicht einfallen, auch einen Aufziehfüllfederhalter der Marke Pelikan.
Richtig begeistert war ich von dem Pelikan-Füllfederhalter nicht – nicht nur, weil ich die Usurpation der gesamten Geschenkeliste durch meine Oma insgesamt befremdlich fand, sondern auch, weil ich mich inzwischen so sehr daran gewöhnt hatte, nicht mit Pelikan zu schreiben, dass es mir wie Verrat vorkam, jetzt plötzlich einen Pelikan zu besitzen und zu benutzen. Irgendwann in dieser Zeit begann ich deshalb, diverse Schreib- und Tuschfedern sowie eher schlecht funktionierende alte Füllfederhalter meiner Eltern auszuprobieren und teilweise auch zu benutzen. Da ich in jenen Jahren viele Briefe schrieb, kamen die verschiedenen Tintenschreibgeräte häufig zum Einsatz, und ich gewöhnte mich sehr an das Schreiben mit dem Füllfederhalter.
In meiner Marburger Zeit kaufte ich dann irgendwann den Montblanc-Füllfederhalter, den ich bis heute am liebsten benutze. Ich nahm ihn Tag für Tag mit in die Uni und verfasste damit Vorlesungs- und Seminarmitschriften, und zuhause schrieb ich mit ihm die Briefe jener Jahre (mit Ausnahme der wöchentlichen Briefe an meine Eltern, die ich auf meinem Computer tippte und ausdruckte). Eines Tages lief ich etwas zu eilig eine der Treppen im damaligen Historischen Institut hinunter – ungefähr zwischen dem 8. und 9. Stock im C-Turm der Phil-Fak-Gebäude an der Wilhelm-Röpke-Straße. Der Füllfederhalter, den ich auf einen Stapel Papiere gesteckt hatte, den ich im Arm hielt, rutschte ab, fiel herunter und klapptere Geschoss für Geschoss zwischen Treppengeländer und Stufen hinab bis in den 1. oder 2. Stock. Als ich ihn unten wiederfand, war sein Lack-Korpus in hunderte kleine Teile zersplittert. Ich sammelte die Fragmente ein und trug alles zu einem Scheibwarengeschäft, das das Wrack an Montblanc sandte. Und tatsächlich: Wundersamerweise kam der Füllhalter wenige Wochen später mit neuem Korpus und nach wie vor wunderbar schreibender Feder zurück, noch dazu in einer praktischen Plastik-Steckhülle verpackt, die zukünftige Sturzschäden ein für alle Male ausschloss.
Als ich später anfing, bei McKinsey zu arbeiten, gab ich das Schreiben mit dem Füllhalter nach kurzer Zeit auf. Zu mühsam war – selbst vor den Beschränkungen des Flüssigkeitstransports im Handgepäck – das Hin- und Hertragen eines Tintenfasses, und zu häufig reagierte der Füllhalter ungnädig auf Druckveränderungen beim Fliegen und hinterließ unerwünschte Tintenmuster an Gepäck, Kleidung oder Papieren. Pragmatisch und betrübt stieg ich um auf diverse Tintenroller, erzählte aber in meinen Teams regelmäßig von meiner Vorliebe für das Schreiben mit Füllhalter und Tinte. Als ich zum Partner gewählt wurde, schenkte mir eine Gruppe meiner engsten Kollegen deshalb einen Pilot Capless, der dank seiner versenkbaren Feder tatsächlich ein reisetauglicher Füllhalter ist. Er wuchs mir zwar nie so ans Herz wie der Montblanc, aber ich nehme ihn bis heute regelmäßig mit, wenn ich länger unterwegs bin und damit rechne, einiges mit der Hand zu schreiben zu haben.
Viele Jahre lang habe ich übrigens am liebsten schwarze Tinte verwendet, gelegentlich zwischendurch auch ein sehr dunkles Blau. Bei Shakespeare heißt es im 65. Sonnett als Antwort auf die Frage, ob irgendetwas die Vergänglichkeit und den Lauf der Zeit aufhalten könne: „O, none, unless this miracle have might, that in black ink my love may still shine bright“.
Anmerkung: Die in diesem Artikel erwähnten Markenartikel haben die Betroffenen bzw. ich selbst zum jeweiligen Zeitpunkt jeweils selbst zu regulären Preisen erworben. Ich schreibe über die Produkte, weil sie mir etwas bedeuten. Materielle Vorteile habe ich durch die Erwähnung der Produkte nicht.