briefblock

Dieser Briefblock ist einer der letzten von zehn Blocks, die ich Mitte der 1990er Jahre geschenkt bekommen habe. Bis heute ist es für mich ein Zeichen größter Wertschätzung, tiefsten Vertrauens und höchsten Respekts, einem anderen Menschen einen Brief zu schreiben. In keinem anderen Medium verdichten sich für mich die Intensität des Nachdenkens und die Präzision der Formulierungen so einzigartig wie in einem (handgeschriebenen) Brief. Und in keinem anderen Medium wird für Verfasser und Empfänger die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz so spürbar wie in dem Brief, den sie nacheinander beide in Händen halten.

Als ich ein Kind war, schrieb meine Mutter auf ihren Forschungsreisen in Afrika eng beschriebene doppelseitige blaue Luftpostbriefe. Darin berichtete sie über ihre Reiserouten, über lustige, langweilige, schöne und erschreckende Erlebnisse, über die Menschen, denen sie begegnete, die Landschaften, die sie sah, und über ihre Pläne für den jeweiligen Rest der Reise. Wenn ein solcher Brief bei uns zuhause eintraf, öffneten wir ihn nie sofort. Erst wenn wir alle – mein Vater, meine Schwester und ich – gemeinsam Zeit hatten, setzten wir uns  auf die Sofas im Wohnzimmer, schlitzten mit dem Brieföffner vorsichtig das hauchdünne Luftpostpapier auf und lasen den Brief laut vor. Oft – vor allem, als wir noch kleiner waren – las mein Vater vor. Später lasen auch meine Schwester und ich vor. Die Briefe rochen immer ein wenig nach Sand und nach Sonne.

Zu meinem sechzehnten Geburtstag (an dem sie selbst im Sudan unterwegs war), schrieb meine Mutter mir einen Brief, der nur an mich adressiert war. Ihr Geschenk für mich war ein getrocknetes Blatt, dessen gitterförmiges Aderngerüst noch erhalten war, während die Blattsubstanz dazwischen sich aufgelöst hatte. Wir sprachen damals viel über Vertrauen, und sie schrieb: „Nach unseren Gesprächen scheint mir hier ein Sinnbild für die Zerbrechlichkeit von Vertrauen zwischen Menschen vorzuliegen. Man muss vorsichtig mit dem Blatt und mit den Menschen umgehen. Beide Beziehungsgefüge bleiben nur bei Behutsamkeit erhalten“. Sie schrieb auch, dass sie „Briefe von besonders lieben Leuten nicht sofort beantwortet habe, sondern das Schreiben mit Freude hinausgeschoben habe, weil es so toll war, darauf zu warten“. Das Blatt hat sich im Laufe der Zeit vollständig aufgelöst. Den Brief habe ich bis heute aufgehoben. Ob ich ihn damals schriftlich beantwortet habe, weiß ich nicht mehr.

In der Oberstufe schrieben meine beste Freundin Lia und ich uns regelmäßig Briefe, obwohl wir uns täglich in der Schule sahen und oft Nachmittage und Abende lang bei Kerzenlicht über Gott, die Welt, die Menschen und das Leben philosophierten. Wenn sie mich mit den Worten begrüßte: „Ich habe Dir einen Brief geschrieben“, freute ich mich den Rest des Schultags darauf, den Brief später zuhause in Ruhe zu lesen – und dann mit der Antwort ein paar Tage zu warten, weil es so schön war, darüber nachzudenken, was ich schreiben würde. Lia war wegen einer chronischen Erkrankung stark übergewichtig und hatte heftige Asthma-Attacken. Sie starb kurz nach dem Abitur. In unserer Abiturzeitschrift hieß es über sie: „Vielleicht wird sie der Schriftsteller des 21. Jahrhunderts“.

Im Studium entdeckte ich in einem Schreibwarenladen in Marburg einen Briefblock mit besonders dünnem Briefpapier. Das Papier war sehr praktisch für lange Briefe, da drei oder vier gefaltete Bögen sowohl vom Volumen als auch vom Gewicht her problemlos in einen Umschlag mit normalem Briefporto passten. Gleichzeitig begann ich, meine wöchentlichen Briefe an meinen Eltern auf meinem neuen Computer zu tippen, was schneller ging und häufigere Unterbrechungen beim Schreiben erlaubte. In den getippten Briefen berichtete ich von meinen Erlebnissen an der Uni und mit Freunden, vom Einkaufen auf dem Markt oder von Wochenendunternehmungen. Meine Eltern schrieben jede Woche zurück und berichteten ebenfalls von ihrem Alltag bei der Arbeit, im Haus und im Garten, von Besuchen und Besuchern oder von ihren Reisen. Alle diese Briefe wurden im Arbeitszimmer meiner Mutter chronologisch in einem Aktenordner abgeheftet.  Handschriftliche Briefe schrieb ich in dieser Zeit an Schul- oder Studienfreunde, die an anderen Orten lebten oder auf Reisen waren.

Anfang der 1990er Jahre freundete ich mich mit einem Marburger Dozenten an, der sein Büro in dem Universitätsgebäude der Philosophischen Fakultät hatte, in dem auch die meisten meiner Seminare stattfanden. Sein Heimweg in die Oberstadt verlief oft durch dieselben Gassen wie meiner. Er war nur an zwei oder drei Wochentagen in der Stadt, weil er an einem anderen Ort eine Frau und einen Sohn hatte. Wenn wir uns trafen, gingen wir gelegentlich gemeinsam zum Mittagessen, oft in einem der vielen italienischen Lokale, die es rund um den Markt in Marburg damals gab. An besonderen Tagen gingen wir ins „Atelier“, das damals im Hotel „Europäischer Hof“ schräg gegenüber der Elisabethkirche residierte. Irgendwann wurde uns das regelmäßige Essen im Restaurant zu teuer, und wir gingen stattdessen mittags zusammen in die Mensa. Noch etwas später verabredeten uns auch abends zu selbstgemachtem Abendessen in meiner oder in seiner Wohnung. Bei mir gab es Pasta, bei ihm gab es Bratkartoffeln. Wir redeten über Philosophie, Philologie, Literatur oder Politik, über Hannah Arendt und Martin Heidegger, Abaelard und Heloise, Italo Calvino und Beppe Fenoglio oder Helmut Kohl und Gerhard Schröder – und über die vielen kuriosen und liebenswerten Gestalten des damaligen Marburger Universitätslebens. Wir hörten zusammen Bachs Cellosuiten und Verdis Requiem, Paolo Conte und Gianna Nannini, Edith Piaf und Serge Gainsbourg. Irgendwann gewöhnte er sich an, bereits am Sonntagabend in die Stadt zu kommen, und wir sahen zusammen im Fernsehen die neueste Folge der Lindenstraße oder ein Fußballspiel.

Vor Beginn meines Promotionsstudiums ging ich für drei Monate nach Lausanne, um dort an einem Französisch-Intensivkurs teilzunehmen. Ich wohnte zur Untermiete bei einer älteren Dame, verbrachte meine Tage in der Sprachschule in unmittelbarer Nähe der Kathedrale von Lausanne, las im Eiltempo französische Romane, ging in viele Konzerte und Ausstellungen – und schrieb alle paar Tage einen Brief an den Marburger Dozenten. Meine Briefe begannen mit „Dilectissime“, manchmal auch einfach mit „D.“.  Jedes Mal, nachdem er in Marburg einen meiner Briefe erhalten hatte, rief er mich abends in Lausanne an. Meine Vermieterin holte mich dann mit einem vielsagenden Lächeln ans Telefon. Da sei wieder, sagte sie: „Ce Monsieur allemand très charmant“, der mich sprechen wolle. Er sagte, ich schreibe die schönsten schrecklichen Briefe, die er in seinem Leben je erhalten habe. In dieser Zeit begann er, mich mit meinem zweiten Vornamen „Victorine“ anzusprechen. Ich benutzte nie seinen Vornamen, auch nicht wenn ich mit ihm redete. Manchmal schickt er mir einen Briefumschlag mit einer Kunstpostkarte ohne Text, einem abgelöstes Etikett von einer Flasche Barolo oder Barbaresco oder einem ausgeschnittenen Mensaplan. Während ich in Lausanne war, ging er nicht ins „Atelier“. Als ich Anfang April wieder nach Marburg kam, gab er mir alle meine Briefe zurück, zusammen mit den sorgsam ausgeschnittenen Briefmarken und den ebenfalls ausgeschnittenen Adressaufschriften der zugehörigen Briefumschläge.

In den folgenden Jahren unternahm ich für meine Doktorarbeit Archivreisen nach Rom, Wien und Paris. Jedes Mal, wenn ich unterwegs war, schrieb ich Briefe an den Marburger Dozenten. Jedes Mal, wenn er einen Brief von mir bekommen hatte, rief er mich an. Jedes Mal, wenn ich zurückkam, gab er mir alle meine Briefe zurück. Zwischendurch brachte er mir Schwarzbrot, Kirschen, italienischen Rotwein oder Grappa, manchmal auch Zitate aus Büchern, die er las, notiert auf den leeren Rückseiten postkartengroß zerschnittener Fahnen seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Irgendwann gab es in dem Schreibwarenladen das von mir geliebte Briefpapier nicht mehr zu kaufen. Der Marburger Dozent suchte so lange, bis er in einem Schreibwarenladen in Bonn exakt dasselbe Briefpapier fand. Er schenkte mir einen Stapel mit zehn Briefblöcken, „damit Du nicht aufhörst, Briefe zu schreiben“.

Am 7. März 1996 unterschrieb der Marburger Dozent einen Kaufvertrag für eine Eigentumswohnung in Marburg, weniger als fünf Minuten Fußweg entfernt von meiner damaligen Wohnung in der Sybelstraße. Am Abend rief er mich von seinem anderen Wohnort aus an, um mir vom erfolgreichen Vertragsschluss zu berichten. Am 8. März 1996 vormittags klingelte mein Telefon. Als ich abhob, war der Sohn des Dozenten dran und fragte: „Sind Sie Victorine?“. Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Der Sohn gab den Hörer an seinen Vater weiter, der mir sagte, seine Frau habe das Telefonat am Vorabend mitgehört und ihm jeden weiteren Kontakt mit mir untersagt. Ein paar Tage später kam er nach gemeinsam mit seinem Sohn und dessen Freundin nach Marburg. Irgendwie gelang es mir trotz der Begleitung, ihn für einen Augenblick alleine in seinem Büro in der Uni abzupassen. Er sagte, er werde in den Semesterferien nicht noch einmal nach Marburg kommen. Dann bat er mich zu gehen, und als er mir die Tür öffnete, sah er mir in die Augen und sagte: „Son‘ morto“.

Am 10. Februar 1950 schrieb Hannah Arendt in einem Brief an Martin Heideggers Frau Elfride: „Es gibt eine Schuld aus Verschlossenheit, die mit mangelndem Vertrauen wenig zu tun hat. In diesem Sinne, scheint mir, haben Martin und ich aneinander wahrscheinlich ebensoviel gesündigt wie an Ihnen. […] Ich konnte deshalb gar nicht darauf kommen, dass Sie irgendetwas von mir erwarteten, weil ich im Zusammenhang dieser Liebesgeschichte so viel bösere Dinge verbrochen habe, später, dass ich auf diese frühen Dinge gar nicht mehr kam. Sehen Sie, ich war, als ich aus Marburg fortging, fest entschlossen, nie mehr einen Mann zu lieben und habe dann später geheiratet, irgendwie ganz gleich wen, ohne zu lieben. Weil ich mich ganz souverän dünkte, glaubte über alles verfügen zu können, gerade weil ich ja nichts für mich erwartete. Dies alles wurde erst anders, als ich meinen jetzigen Mann kennenlernte. Doch das ist ein anderes Kapitel“.

Im Internet kann man recherchieren, dass der Schreibwarenladen J.F. Carthaus in Bonn im Sommer 2015 sein seit 1882 betriebenes Geschäft in der Remigiusstraße aufgegeben und sich als „Verlag für regionale Werbung“ neu ausgerichtet hat.