Diese Plastikrose ist seit Mitte der 1990er Jahre in meinem Besitz. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie erst in Mainz gekauft (oder geschenkt bekommen?) habe oder ob ich sie schon in Marburg hatte und mit ihr von Marburg nach Mainz umgezogen bin. In Marburg jedenfalls zählte über viele Jahre zu meinen samstäglichen Markteinkäufen ein Strauß von 20 kurzstieligen Feldrosen. Lieber als einheitlich gefärbte, mochte ich jene Feldrosen, die orange-rosa-rot-lachsfarben gefleckt waren. Manche Sträuße gingen langsam auf, erblühten zu Kunstwerken, welkten erst nach zwei bis drei Wochen und atmeten noch im Vertrocknen morbide Ästhetik. Manche Sträuße blieben knubbelige Knospen, die nach wenigen Tagen verdorrten, ohne jemals wirklich einer Rose zu ähneln.
Immer schon habe ich allen, die mich danach fragten (und vielen, die nicht danach fragten) erzählt, dass ich Blumen nicht besonders mag. Ich hatte im Laufe meines Lebens nur sehr wenige Zimmerpflanzen (die meisten davon Kakteen oder Sukkulenten), die selten mehr als wenige Monate überlebten. Geschenkte Blumensträuße machen mich bis heute ratlos, weil ich nie die passende Vase zur Hand habe. Die Sträuße stehen dann zu kurz- oder zu langstielig, zu gedrängt oder zu zerfächert, zu ausladend oder zu eingezwängt in einem irgendwie ansatzweise geeignet geformten Behälter, und ich hoffe, dass der oder die Schenkende nicht wieder zu Besuch kommt, ehe der Strauß verwelkt ist. Vor einigen Jahren erzählte meine Schwester mir von einer Freundin, die alle ihre Vasen weggegeben hatte, um sich dann bei einem Blumengeschäft beraten zu lassen und drei oder vier neue Vasen zu kaufen, die zuverlässig die meisten handelsüblichen Sträuße aufnehmen können. Ich bin noch nicht dazu gekommen, diese Idee für mich umzusetzen.
In einem meiner ersten Marburger Semester erwartete mich bei einem Wochenendbesuch bei meinen Eltern in Hamburg unerwartet ein großer Strauß dunkelroter Rosen. Sehr erfreut rief ich meinen damaligen – in Hamburg lebenden – Freund an, um mich zu bedanken. Allein: Er hatte den Blumenstrauß nicht geschickt. Am folgenden Tag fand ich im Briefkasten einen mehrseitigen, handgeschriebenen Brief von einem Kommilitonen aus Marburg, der mit mir in einem Philosophie-Proseminar saß. Wie der Kommilitone – dessen Name mir längst entfallen ist und an dessen Gesicht ich mich damals schon kaum erinnern konnte – die Adresse meiner Eltern herausgefunden hatte, weiß ich bis heute nicht. In seinem Brief erklärteerklärte in blumigen Worten, wie sehr er durch meine Gegenwart im Seminar, den Klang meiner Stimme und den Anblick meiner Person verzaubert worden sei. Er schrieb vom „goldroten Schimmer in meinen Haaren“. Als Kind hatte ich hellblonde Haare, und seit meiner Teenagerzeit sind meine Haare aschfahlschmuddelblond, bei wohlwollendem Licht vielleicht hellbraun – niemals aber auch nur im Ansatz rötlich. Er schrieb weiter, wie lange er mit sich gehadert habe, ob und wie er mich ansprechen könne, und wie sehr es ihn ermutigt habe, dass ich mich kürzlich im Seminar auf einen anderen Platz gesetzt hätte – offensichtlich ja um ihm näher zu sein. Ich hatte (und habe bis heute) keine Erinnerung daran, mich überhaupt an einen anderen Platz gesetzt zu haben. In den Wochen nach diesem Erlebnis achtete ich peinlichst darauf, keinen einzigen Blick in die Richtung des Kommilitonen zu werfen, und noch Monate später ging ich von der Uni nach Einbruch der Dunkelheit nur in Begleitung von Freunden nach Hause. Ich erzählte die Geschichte im Freundeskreis, und unter uns nannten wir den Kommilitonen den „Rosenkavalier“. Nach dem Ende des Semesters habe ich ihn nie wieder gesehen.
Die Plastikrose hatte ihren großen Auftritt in einer Pseudo-Barockoper, die wir Ende der 1990er Jahre in Mainz am Institut für Europäische Geschichte gemeinsam mit zwei Kollegen und einigen Stipendiaten librettierten, choreographierten und schließlich im Konferenzsaal zur Aufführung brachten. Die Oper hieß „Il Borsista“ und erzählte die Geschichte eines Stipendiaten (verkörpert durch meinen Kollegen M.), der zwischen den Weihen des akademischem Lebens (verkörpert durch meine Kollegin und gute Freundin N.) und den Verlockungen des Geldes (verkörpert durch mich in der Rolle der „Avaritia“) hin- und hergerissen war. N. und ich trainierten zu jener Zeit beide intensiv Ballett, so dass wir einen großen Teil unserer jeweiligen Parts auf Spitzenschuhen tanzten. Ich trat außerdem auch mit einem Stepptanz zu „Money makes the world go round“ aus „Cabaret“ auf, und die Auseinandersetzung kulminierte in einem Bühnenfechtduell mit Plastikschwertern zwischen N. und mir, aus dem sie schließlich siegreich hervorging, während ich mit einem wutschnaubenden Abschlusstanz von der Bühne abging. Zum Dank und zum Zeichen seiner Entscheidung überreichte M. anschließend die Plastikrose an N. Bei der Aufführung trugen wir alle handgemalte Harnische aus Stoff mit barockisierenden Goldornamenten, die unsere Freundin M. – seinerzeit Stipendiatin am Institut – hergestellt hatte. Gerade vor einigen Wochen wurde M. als Abgeordnete ins Parlament ihres Heimatlands gewählt. N. arbeitet seit vielen Jahren für eine große internationale Organisation und lebt zur Zeit in Israel.
Irgendwann in meiner Marburger Zeit habe ich in eins meiner vielen Notizbücher die Worte der Marschallin aus Hugo von Hofmannsthals „Rosenkavalier“ notiert: „Leicht muss man sein: mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen… Die nicht so sind, die straft das Leben und Gott erbarmt sich ihrer nicht“.