spitzenschuhe

Dieses war mein erstes Paar Spitzenschuhe. Es wurde Anfang der 1980er Jahre von einem Hamburger Schuhmacher handgefertigt, der seinen Laden in der Nähe der U-Bahn-Station Hudtwalckerstraße hatte. Nach der Vorgabe meiner Ballettlehrerin („weiche Sohle, kurze Kappe“), dem Ausmessen meiner Füße und der Auswahl der Lederfarbe (weiß) stellte der Schuhmacher die Schuhe passgenau her. Ein Mädchen in unserer Gruppe hatte Spitzenschuhe aus rotem Leder.

Zeitgleich mit meiner Einschulung hatte ich 1977 mit Kinderballett am Bühnenstudio Hedi Höpfner begonnen. Die Schule existiert heute noch, jetzt als Schauspielschule Bühnenstudio Hamburg. Kinderballettkurse werden dort nicht mehr angeboten. Meine Großmutter erzählte gerne und oft, dass sie meine Eltern dazu überredet hätte, mich dort anzumelden, nachdem sie in einer Fernsehsendung einen Auftritt von Schülern von Hedi Höpfner gesehen hatte. Meine Eltern sind davon überzeugt, dass sie selbst die Schule ausgesucht hatten. Hedi Höpfner – damals 66 Jahre alt – unterrichtete die Kinderballettkurse selbst. Im ersten Kurs standen wir zu Beginn jeder Stunde mit ausgestreckten Händen im Kreis und ließen minutenlang zu Etüdenmusik nacheinander jeden einzelnen Finger kreisen, erst im Uhrzeigersinn, dann gegen den Uhrzeigersinn. Die anderen Finger durften sich dabei auf keinen Fall mitbewegen. Bis heute kann ich jeden einzelnen Finger jeder Hand in beide Richtungen kreisen lassen, ohne dass andere Finger sich mitbewegen.

Das Studio war damals in einer klassisch geschnittenen Hamburger Altbauwohnung, einem „Hamburger Knochen“, im rechten Erdgeschoss in der Hansastraße 35 untergebracht. Ich fuhr also bis zur U-Bahn-Station Hallerstraße, erst ein, dann zwei und später zeitweise drei Mal in der Woche. Einmal war ich auf der Fahrt so in mein Buch vertieft, dass ich versehentlich bis Stephansplatz sitzen blieb und eine Station zurückfahren musste. Als ich die eine Station zurückfuhr, hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen, weil ich für diese Fahrt keine gültige Fahrkarte hatte.

Die Schule war eigentlich eine Schule für Schauspiel- und Musical-Ausbildung. Im Umkleideraum zogen sich deshalb immer auch erwachsene Schüler und Schülerinnen um, die in den anderen Räumen Sprech-, Pantomime-, Gesang-, Tanz- oder Steptanz-Unterricht hatten. Die erwachsenen Schüler und Schülerinnen rochen stark nach Schweiß und kleideten sich in viele Schichten zerrissener Trainingsklamotten. Alle trugen Wadenwärmerstulpen. Der Ballettsaal befand sich in zweien der großen vorderen Zimmer. Durch die trotz Dämmplatten kaum abgedichtete, verschlossene Schiebetür zum dritten großen Zimmer drang oft ein dumpfes „Pa, Pa, Pa“, ein spitzes „Mi, Mi, Mi“ oder ein melodiöses „Lalalala“ aus der Stunde nebenan. Manchmal schrie jemand: „Du Schuft!“ oder: „Es ist vorbei!“. Manchmal fiel ein Schuss. Gegen Ende des Trainings übten wir Radschlagen über die Diagonale der zwei verbunden Räume und Handstand an der Türzarge der Schiebetür zwischen den Räumen. Im Flur, wo wir auf den Beginn der Stunde warteten, hing ein Abzug des Posters „Jane Avril“ von Henri de Toulouse-Lautrec.

Hedi Höpfner trug Hosenanzüge, oft in leuchtenden Farben. Ich erinnere mich an ein strahlendes Blau und an ein schreiendes Grün. Sie wohnte im Norden von Hamburg, nicht weit von meinem Elternhaus, sehr nahe am Haus meiner damaligen Klavierlehrerin. Eines Tages sah ich Hedi Höpfner auf dem Weg vom Klavierunterricht auf der Straße, von einer mir unbekannten Dame am Ellbogen geführt. Sie presste sich ein Tuch vor ein Auge und bemerkte mich nicht. Später erfuhr ich, dass eine Kinderballettschülerin sie beim Radschlagen so heftig mit dem Fuß am Auge getroffen hatte, dass sie die Stunde abbrechen und zum Arzt gehen musste. In der Nähe wohnte auch Hedi Höpfners Sohn mit seiner Frau und seiner Tochter. Die Tochter besuchte mit meiner Schwester zusammen dieselben Kinderballettkurse. Die beiden sind bis heute miteinander befreundet und wechselseitig Paten für jeweils eines ihrer Kinder. Bei Hedi Höpfner selbst oder bei ihrem Sohn zuhause stand ein Exemplar der Rosenthal Porzellanfigur „Kaiserwalzer“, für die Hedi Höpfner und ihre Schwester in den 1930er Jahren Modell gestanden hatten. Ich habe Hedi Höpfner niemals ohne die charakteristische Stirntolle dieser Porzellanfigur gesehen, exakt aufgerollt und sorgsam festgesteckt mit einer Haarklemme. Im Internet kann man in diversen Auktionen immer wieder Exemplare der Porzellanfigur kaufen. Sie kosten bis zu 1.000 Euro, und in den Angeboten steht, dass der Entwurf aus dem Jahr 1938 von Lore Friedrich-Gronau stammt.

Auf die ersten Kinderballettstunden folgten später Stunden mit klassischem Balletttraining an der Stange und im Raum. Zuhause versuchte ich, meinen Eltern Ballettunterricht zu geben. Mein Vater kam nie weiter als bis zum Grand Plié. Er nannte die Übung: „Kartoffeln aus dem Keller holen“. Zu den Drehungen und Sprüngen über die Raumdiagnonale im Anschluss an das Stangenexercice lief jedes Mal der Walzer „Frühlingsstimmen“ von Johann Strauß. Wenn ich diese Musik heute höre, stehe ich in Gedanken sofort an der Stange am vorderen Fenster des Saals und warte auf meinen Einsatz in dem Moment, in dem die vor mir übende Tänzerin die Diagonale durchquert hat. Noch später nahm ich auch Steptanzstunden, die Hedi Höpfner ebenfalls selbst leitete.

Einmal im Jahr tanzten die erwachsenen Schüler und Schülerinnen des Studios im Theater an der Marschnerstraße vor Publikum. Nach einer dieser Aufführungen sang ich wochenlang Berthold Brechts „Alter Bilbao Mond“. Noch mehr als die Musical-Stücke beeindruckten mich die Pantomimen, die ohne Worte Treppen auf- und abstiegen, Zigaretten rauchten, Äpfel aßen, lachten, staunten, weinten und Sonne, Mond und Sterne vom Himmel holten. Einige Male durften bei diesen Aufführungen auch wir Ballettkinder auf der Bühne auftreten. Einmal tanzten wir ein Menuett und einmal einen Matrosen-Steptanz, der meiner Freundin Lara und mir sehr peinlich war. Bei diesem Auftritt kam mir in der Theatergarderobe ein silbernes Kreuz an einer silbernen Halskette abhanden, das ich zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte. Etwas später sah ich die Kette mit dem Kreuz um den Hals eines anderen Mädchens in unserem Ballettkurs. Ich habe sie nie darauf angesprochen. Noch etwas später trat ich in einem Weihnachtsmärchen mit Schülern von Hedi Höpfner im Karstadt-Möbelhaus im Einkaufszentrum an der Hamburger Straße auf. Ich tanzte in einer Version von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ den größten Engel bei „Abends wenn ich schlafen geh’…“. Ich war die einzige Tänzerin auf Spitzenschuhen. Ein kleines Mädchen im Publikum raunte: „Guck‘ mal, die turnt auf der Spitze!“. Nicht lange danach meldete ich mich vom Ballettunterricht ab.

Im Spätsommer 1988 rief die Schwiegertochter von Hedi Höpfner bei uns zuhause an. Ich ging zufällig ans Telefon. Sie fragte mich, ob meine Mutter oder meinen Vater zuhause seien und ob sie einen von beiden sprechen könne. Ich scherzte, beide seien da und sie müsse sich entscheiden, wen sie sprechen wolle, sonst könne ich ihr nicht weiterhelfen. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte. Ich glaube, mein Vater ging dann ans Telefon. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, sagte er: „Frau Höpfner ist tot“. Ich hatte viele Jahre lang ein schlechtes Gewissen, weil ich diesen wichtigen, traurigen Anruf mit einem schlechten, flachen Scherz entgegengenommen hatte.

In den 1990er Jahren, als ich in Mainz lebte, fing ich wieder an, Ballett zu tanzen. Meine Lehrerin dort war Jutta Ludewig, eine Schülerin von Mary Wigman. Sie war damals vermutlich in demselben Alter wie Hedi Höpfner, als ich mit dem Ballettunterricht begann. Sie hatte ein Ballettstudio im ersten Stock eines gesichtslosen Büro- und Ladengebäude an der Großen Bleiche. Mehrere Jahre lang ging ich wieder drei Mal in der Woche zum Balletttraining. Nach kurzer Zeit tanzte ich auch wieder Spitze. Bei Jutta Ludewig lernte ich, dass ich mit Spitzenschuhen mit harter Sohle und hoher Kappe viel besser tanzen konnte als mit Schuhen mit weicher Sohle und kurzer Kappe. Ich lernte auch, meine Zehen vor dem Tanzen so mit Pflaster abzukleben, dass weniger Blut in die Zehenschoner sickerte. Irgendwann nahm ich auch an Jutta Ludewigs Ausdruckstanzkursen teil. Dort pflückten wir in der Tradition von Isadora Duncan und Mary Wigman imaginäre Blumen und tanzten Trauer, Ärger, Freude oder Sehnsucht. Irgendwann in diesen Jahren trat ich mit einer Laienspieltruppe in einem Vorort von Mainz als Tänzerin in Igor Strawinskys „Historie du Soldat“ auf. Die Choreographie dafür entwickelte ich selbst. Ich habe irgendwo noch eine Videokassette mit einer Aufnahme von der Aufführung.

Nachdem ich 2001 einen Job angefangen hatte, bei dem ich viel unterwegs war, gab ich das klassische Ballett auf. Es frustrierte mich, dass ich nicht mehr drei Mal in der Woche trainieren konnte. Ich merkte jede Woche, wie Kraft, Spannung und Beweglichkeit nachließen. Stattdessen fing ich mit Yoga an. Meine ersten Spitzenschuhe liegen in einer Kiste zusammen mit zwei Paar Stepschuhen, vielen Balletttrikots und -strumpfhosen und vier Paar getragenen und einem noch ungetragenen Paar Spitzenschuhen aus meiner Mainzer Zeit. In diesen Jahren trug ich ausschließlich Spitzenschuhe der Marke repetto, die ich jeweils ersetzte, wenn die Sohlen zu weich wurden. Weiter oben in der Kiste liegen Badeanzüge und Bikinis, und oben auf der Kiste stapeln sich Yogahosen und -oberteile.

In den 1980er Jahren bewarb ich mich einmal um die Aufnahme in die Ballettschule der Hamburgischen Staatsoper. Die Aufnahmeprüfung fand damals im sogenannten „Bierpalast“ am Dammtorbahnhof statt, wo die Ballettschule seinerzeit untergebracht war. Ich hatte gehört, dass man bei der Aufnahmeprüfung nur Chancen hatte, wenn man seine Beine 180° auswärts drehen konnte. In den Wochen vor der Prüfung saß ich stundenlang mit einem angewinkelten Bein unter das Bett geklemmt und dehnte jeweils das andere millimeterweise weiter. Einige Tage nach der Prüfung kam ein kurzes Absageschreiben. Bis heute kann ich meine Beine nicht weiter als etwa 120° auswärts drehen. Daran haben auch 15 Jahre Yoga nichts geändert.

„Geht nicht, gibt’s nicht“, pflegte Hedi Höpfner zu sagen.