Diese Teigkarte stammt aus dem Gemischtwarenladen des Stiefvaters meiner Mutter in dem kleinen Dorf Kemme, knapp 10 Kilometer östlich von Hildesheim. Meine Großmutter war 1949 mit meiner damals sechsjährigen Mutter dorthin gezogen. Meine Mutter erzählte immer, dass der wichtigste Grund für den Umzug gewesen sei, dass meine Mutter auf eine ordentliche Schule gehen sollte. Vorher hatten sie in dem winzigen Weiler Reimersbude bei Witzwort in Schleswig-Holstein gewohnt, wo sie nach ihrer Flucht aus Kolberg und einem Aufenthalt bei Verwandten in Hamburg 1945 einquartiert worden waren.
Die Teigkarte lag in meinem Elternhaus in der Schublade mit Kochlöffeln, Bratenwendern und Kartoffelstampfern. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter die Teigkarte jemals beim Backen benutzt hätte. Zum Rühren von Kuchenteigen verwendete sie eine sehr große, sehr schwere, sehr alte Steingutschüssel und einen hölzernen Rührschlegel. Als Kind hatte ich immer Angst, dass die Schüssel eines Tages herunterfallen und zerbrechen könnte. Um die Schüssel auszukratzen, benutzte meine Mutter einen Löffel oder einen Kochlöffel. Meine Mutter legte immer großen Wert darauf, Speisereste aus Behältern sehr sorgfältig auszukratzen. Wenn beim Frühstück jemand die letzten Marmeladenreste aus einem Marmeladenglas gegessen hatte, nahm sie unweigerlich das Glas noch einmal in die Hand und kratzte mit einer Messerspitze so viel Marmelade aus dem leeren Glas, dass sie damit eine halbe Brotscheibe bestreichen konnte. Bis heute ertappe ich mich selbst bei dem Reflex, aus frisch geleerten Gläsern ebenfalls noch allerletzte Reste herausschaben zu wollen – ganz egal, wer das Glas vorher wie sorgfältig geleert hat.
Meine Mutter aß – und buk – sehr gerne Kuchen. Je älter sie wurde, desto mehr Kuchenrezepte wandelte sie ab, weil sie weniger und weniger Lebensmittel gut vertrug und deshalb versuchte, die Anteile von Eier, Milch, Zucker oder Butter mehr und mehr zu reduzieren. Einer meiner liebsten Käsekuchen nach einem Rezept meiner ersten Kinderfrau enthielt unter anderem 4 Eier und 125g Butter. Die Butter wurde schon bei uns zuhause oft durch Öl ersetzt, und als meine Mutter mir das Rezept 2010 in einer Email wieder einmal schickte, schrieb sie dazu: „Ohne Ei geht es auch sehr gut“. Im Originalrezept enthielt der Käsekuchen auch Ananas („eine halbe Dose ohne den Saft“). Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir den Kuchen jemals mit Ananas gebacken hätten. In derselben Email schrieb meine Mutter dazu: „Wir haben immer Apfel genommen, aber frischer Rhabarber geht auch prima“. Inzwischen backe ich den Kuchen wieder mit vier Eiern und mit Butter.
Anfang 2016 fing ich an, selbst Brot zu backen. Mein Sohn hatte sich dafür interessiert, wie eigentlich Brot gemacht wird. Wir setzten deshalb einen eigenen Sauerteig an, und seit Januar 2016 backen wir mit diesem Sauerteig regelmäßig Brot. In meiner Erinnerung war selbstgebackenes Brot immer klebrig, flach und geschmacklos. Meine Mutter hatte bei ihren (wenigen) Versuchen, Brot zu backen, meist Brotbackmischungen verwendet, deren Mindesthaltbarkeitsdatum oft abgelaufen war, weil sie bei einer Sonderangebotsaktion so viele Packungen gekauft hatte, dass sie diese innerhalb der Verwendungsdauer unmöglich aufbrauchen konnte. Sie war auch ein wütender Gegner elektronischer Küchenhilfen, weil sie überzeugt davon war, dass die Qualität eines mittels einer Maschine gekneteten (oder gerührten) Teigs niemals an die eines handgekneteten (oder handgerührten) Teigs heranreichen würde. Erst viele Jahre später habe ich mich getraut, selbst ein Rührgerät oder eine Küchenmaschine zu verwenden – und war überrascht, wie gut die maschinengefertigten Teige wurden. Unter anderem stellte ich fest, dass meine Mutter bei der Benutzung von Knethaken immer zu früh aufgegeben hatte: Sie hatte die Maschine immer schon zu dem Zeitpunkt abgestellt, zu dem statt eines durchgekneteten Teigs ein Haufen zerkrümelter Streusel entstanden war – die dann natürlich von Hand weitergeknetet werden mussten. Was das selbstgebackene Brot meiner Mutter betrifft, so litten Konsistenz und Geschmack vermutlich außerdem darunter, dass sie aus Gesundheitsgründen – wie bei den meisten Speisen – auf die Zugabe von Salz gerne komplett verzichtete und aus Sparsamkeit niemals den Backofen vorheizte. Über meine eigenen Erfahrungen mit dem Brotbacken habe ich vor einiger Zeit hier geschrieben.
Im Winter 2016 fand ich bei einem Besuch in meinem Elternhaus die Teigkarte und nahm sie mit, um sie beim Brotbacken zu verwenden. Sie war durch mangelnde Benutzung etwas verstaubt, und wenn man die Karte ins Gegenlicht hielt, konnte man darauf lesen: „Frohe Weihnacht 1953! Otto Nothdurft, Gemischtwaren, Kemme“. Im Gespräch mit meinen Tanten – den beiden Halbschwestern meiner Mutter – stellt sich heraus, dass die Teigkarte ein Weihnachtsgeschenk vom Laden an die Kunden gewesen war. In anderen Jahren hatte es offenbar auch Kochlöffel oder Holzbrettchen gegeben, von denen aber keine mehr in unserem Besitz zu sein scheinen. Der Laden existierte längst nicht mehr, als wir als Kinder in den 1970er und 1980er Jahren Kemme besuchten. Der Stiefvater meiner Mutter wohnte aber mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter nach wie vor in demselben Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen war. Wir nannten ihn „Opa Kemme“, und er spazierte auf seinen Stock gestützt vor uns durch das Haus und über den Hof und erklärte uns Trecker, Obstbäume, Hühnerställe und die Eiersortiermaschine. Manchmal durften meine Schwester und ich beim Eiersortieren helfen, und nachmittags saßen wir immer im Garten, aßen Kuchen und tranken selbstgemachten Apfelsaft.
Mittlerweile ist die vor zwei Jahren noch recht gut lesbare Schrift auf der Teigkarte durch den regelmäßigen Gebrauch weiter verblasst. Beim Zubereiten von Rührteigen sagte meine Mutter immer: „Solange der Zucker noch zu sehen und zu hören ist, hast Du noch nicht lange genug gerührt“.
[…] dem Brotbacken zog zunächst die Teigkarte aus dem Gemischtwarenladen meines Stiefgroßvaters in meine Küche um, dann – ein knappes […]
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