Dieser Perlenanhänger stammt von meiner Patentante Rena. Als ich etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt war, schenkte sie ihn mir. Ich bedankte mich und fragte: „Hat der Anhänger eine besondere Geschichte?“. Sie antwortete: „Nein.“, und unser Gespräch stockte kurz. Bis heute frage ich mich, ob der Anhänger tatsächlich nichts ist als ein elegantes Schmuckstück ohne besondere Geschichte oder ob er eine Geschichte hat, die Tante Rena aber aus nur ihr bekannten Gründen für sich behalten wollte.
Mit vollem Namen hieß Tante Rena Renata Quodbach. Sie erzählte gerne, dass ihre Eltern sie „Renata“ (mit „a“) genannt hatten, weil sie glaubten, dass sie die Wiedergeburt ihres als Kind verstorbenen älteren Bruders war. Als ich klein war, beeindruckte mich diese Geschichte sehr, und ich empfand den Vornamen „Renata“ immer als besonders vornehm und außergewöhnlich. Tante Rena war eine Freundin meiner verstorbenen Großmutter mütterlicherseits gewesen. Die beiden kannten sich aus Kolberg und waren dort wohl gut befreundet. Wie und wann Tante Rena nach Hamburg gekommen war, habe ich nie erfragt (oder wieder vergessen).
In Hamburg wohnte Tante Rena in einer kleinen Etagenwohnung in der Elbgaustraße, in unmittelbarer Nähe der gleichnamigen S-Bahn-Station. Als ich alt genug war, um alleine mit U- und S-Bahn zu fahren, besuchte ich sie dort gelegentlich zu Tee und Kuchen. Bei einem dieser Besuche schenkte sie mir den Perlenanhänger. An andere Geschenke von ihr kann ich mich nicht erinnern. Meine andere Paten sind ein ehemaliger Untermieter meiner Eltern, der mir zu jedem Geburtstag und jedem Weihnachten eine Packung Playmobil schenkte, und eine gemeinsame Studienfreundin meiner Eltern, die gerne erzählt, dass ich als sehr kleines Kind oft heftig an ihrer Kette und an ihren Haaren zog. Diese beiden Paten sind im Alter meiner Eltern und kommen bis heute beide immer wieder zu Familienfeiern in meinem Elternhaus.
Tante Renas Lebensgewohnheiten außerhalb ihrer Wohnung standen in eigenartigem Widerspruch zu deren bescheidener Lage und Einrichtung. Sie speiste – so sagte sie es selbst – regelmäßig wöchentlich (oder monatlich?) im Hotel „Europäischer Hof“ in der Kirchenallee auf der Ostseite des Hamburger Hauptbahnhofs. Gelegentlich waren meine Eltern und ich eingeladen, mit ihr gemeinsam dort zu essen. Meiner Erinnerung nach befand sich das Restaurant damals in einem der oberen Stockwerke mit Blick auf den Hauptbahnhof, und Tante Rena saß immer an demselben Tisch am Fenster. Als Kind hatte ich sehr großen Respekt vor der von mir damals als sehr edel empfundenen Atmosphäre des Hotels und vor den unendlichen Möglichkeiten, beim Essen einen Fauxpas zu begehen.
Im Sommer residierte Tante Rena in Travemünde, und zwar im „Golfhotel“ mit dem Restaurant „Seetempel“ am Südende des Brodtener Ufers. Das Hotel gehörte damals – so berichtet mein Vater – derselben Hoteliersfamilie Berk wie der „Europäische Hof“ in Hamburg. Auch in Travemünde besuchten wir Tante Rena gelegentlich, und auch dort wurde elegant und mit Aussicht – in diesem Fall auf die Ostsee – gespeist. Bei einem Besuch in den 1980er Jahren empfahl der Kellner uns als ganz besonders raffinierte Neuheit zur Nachspeise Erdbeeren mit grünem Pfeffer. Als ich in der Oberstufe war, fuhr ich oft an warmen Sommerwochenenden mit Schulfreunden mit dem Auto oder mit dem Zug nach Travemünde. Wir lagerten dann am Strand unterhalb des Brodtener Steilufers und führten auf den Steinen sitzend lange Gespräche. Das Restaurant „Seetempel“ hieß übrigens nach dem ehemals dort stehenden Seetempel, der schon beim Ostseehochwasser 1872 zerstört worden war, wie man bei Wikipedia nachlesen kann. Der Seetempel kommt auch in Thomas Manns „Buddenbrooks“ vor, und wir saßen als Jugendliche natürlich vor allem deshalb „auf den Steinen“, weil das für Tony Buddenbrook und Morten Schwarzkopf eine so besondere Bedeutung gehabt hatte. Und vermutlich mischten sich damals in unseren Gesprächen politische Naivität und emotionale Verwirrtheit in genau derselben Weise wie in den Konversationen zwischen Tony und Morten.
Für die Wintermonate hatte Tante Rena ein Schauspiel-Abonnement für zwei Plätze im Thalia-Theater, das sie über viele Jahre gemeinsam mit ihrem damaligen Freund besuchte, von dem bei uns zuhause in distanzierter Höflichkeit als „Herr Kunze“ gesprochen wurde. Tante Rena behielt das Theaterabonnement auch, nachdem Herr Kunze verstorben war. Dadurch kamen meine Eltern und ich in wechselnder Zusammensetzung in den Genuss regelmäßiger Theaterbesuche. Welche Vorstellungen genau wir gesehen haben, weiß ich allerdings nicht mehr. Theaterkarten kaufte ich damals auch über das Angebot des Hamburger „Kulturring der Jugend“, von dem man ein Gutscheinheft bekam, dessen Gutscheine man – je nach Geschmack – in Theater-, Ballett-, Opern-, Konzert- und auch Popkonzert-Karten eintauschen konnte. Im Mai 1986 war ich mit einer über die „Kulturring“-Gutscheine gekauften Karte beim „Sprünge“-Konzert von Herbert Grönemeyer im Stadtpark. Und in der Spielzeit 1986/7 verließ ich einmal empört über die Inszenierung von Peter Zadek vorzeitig eine Vorstellung von „Julius Caesar“ im Schauspielhaus.
Tante Rena starb in den ersten Jahren, in denen ich in Marburg studierte. Beim Schreiben merke ich, dass ich von ihr persönlich sehr wenig weiß. Was sie in meiner Erinnerung ausmacht, sind keine besonderen Geschichten, sondern eine großbürgerliche Haltung, die sich in kultivierten Gewohnheiten und feinen Gesten ausdrückte.
„Wir sind, meine liebe Tochter“, schreibt Konsul Buddenbrook an Tony in Travemünde, „nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und ohne nach rechts und links zu blicken einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten“.