Dieses ist ein frisch ausgewickelter, unbenutzter Tampon der Marke o.b. Überschlägig gerechnet, ist es ungefähr der 5.000te Tampon, den ich in meinem Leben ausgepackt habe. Das entspricht etwas mehr als 78 großen Packungen mit Tampons (à 64 Stück) zu Gesamtkosten von rund 390 Euro (bei heutigen Preisen). Das sind rund 11 Euro pro Jahr – oder 92 Cent pro Periode. Ich bin überrascht, dass die Kosten nicht höher sind. Ein mehr oder minder vollgesogener Tampon wiegt übrigens rund 10 Gramm. Im Laufe meines Lebens habe ich also bisher rund 50 Kilo gebrauchter Tampons weggeworfen. Eine Entsorgung dieser gesamten Menge im Restmüll würde in Hamburg zur Zeit etwas über 10 Euro kosten, bei Ablieferung auf dem Recyclinghof sogar nur 3 Euro. Auch das ist deutlich weniger an Volumen und Kosten, als ich erwartet hätte.
Als ich zum ersten Mal meine Tage bekam, war ich 11 oder 12 Jahre alt. In meiner Schulklasse fragte die Mädchen sich gegenseitig mit vielsagend hochgezogenen Augenbrauen: „Hast Du schon…?“. Diejenigen, die „schon hatten“, saßen alle vier Wochen beim Sportunterricht demonstrativ auf der Bank. Meine Schulfreundin Uta, die neben mir saß, gehörte zu den ersten Mädchen in der Klasse, die „hatten“. Monatelang fragte sie mich quasi täglich: „Und? Hast Du schon…?“, und verwickelte mich in Gespräche darüber, ob sie an der nächsten Sportstunde wohl würde teilnehmen können oder nicht. Als ich dann endlich auch meine Tage hatte, verpasste ich keine einzige Sportstunde. Ich nahm lieber mit Kopfschmerzen, Bauchkrämpfen oder Übelkeit am Sportunterricht teil, als andere wissen zu lassen, dass ich gerade meine Periode hatte.
Wenn meine Mutter ihre Tage hatte, verwendete sie Binden. Gelegentlich lag eine benutzte Binde zusammengefaltet im Bad neben der Toilette (wo wir zuhause seltsamerweise nie einen Mülleimer hatten). Manchmal sah ich in der Toilettenschüssel Blutspuren. Als Kind bemerkte ich beides mit einer Mischung aus Neugier, Ehrfurcht und Ekel. Als ich selbst meine Tage bekam, gab meine Mutter mir ein Paket Binden aus ihrem Vorrat. Die Binden waren viel zu groß und viel zu dick für mich. Sie beulten sich unförmig zwischen meinen Beinen und rutschten nach rechts, links oder hinten aus meiner Unterhose heraus. Das Blut wurde nie ganz von der Binde absorbiert, sondern sickerte in meine Unterwäsche oder in meine Hosen. Aus Angst, die Binde könnte herausrutschen und herunterfallen, traute ich mich nicht Röcke zu tragen, wenn ich meine Tage hatte. Selbst wenn ich gerade eine frische Binde genommen hatte, stank irgendetwas immer nach herausgelaufenem, geronnenem Menstruationsblut.
Am Tag, nachdem ich zum ersten Mal meine Periode bekommen hatte, fuhr ich auf eine Schülerfreizeit. Das Paket Binden steckte ich tief unten in mein Gepäck. Wir waren wenige Mädchen und sehr viele Jungen. Am ersten Abend besuchten uns einige Jungen im Mädchenzimmer. Jeder von ihnen krabbelte zu einem von uns Mädchen ins Bett. Die Betten waren Doppelstockbetten. Ich schlief in einem oberen Bett. Als Bettwäsche nutzte ich einem weißen Jugendherbergsschlafsack aus Baumwolle, den meine Eltern mir mitgegeben hatten. Ein rothaariger Junge, den ich besonders nett fand, kletterte in mein Bett und schlängelte sich mit in meinen Schlafsack. Ich lag vollkommen unbeweglich da, rückte möglichst weit von ihm weg und versuchte, mich nicht zu bewegen, damit die Binde nicht verrutschte und damit kein Blut in den Schlafsack lief. Später am Abend vertrieben die Erzieher die Jungen aus unserem Zimmer und untersagten derartige Besuche. Der nette Junge ging mir für den Rest der Freizeit aus dem Weg.
Wenige Monate, nachdem ich zum ersten Mal meine Tage bekommen hatte, kaufte ich mir meine erste Packung Tampons. Ich habe seitdem nie wieder Binden verwendet (mit der Ausnahme von Wochenbinden direkt nach der Geburt meines Sohns), und andere Methoden des Umgangs mit Menstruationsblut – „period proof underwear“, Menstruationstassen oder „free bleeding“ – werde ich vermutlich nicht mehr ausprobieren. Ich fühle mich nicht besonders stolz, selbstbewusst oder weiblich, wenn mein Körper einmal pro Monat die nicht für eine mögliche Reproduktion eingesetzten Materialien in einem Schwung ausstößt. Meine Menstruation ist für mich ein unpraktisches, oft von unangenehmen Schmerzen begleitetes biologisches Merkmal, das ähnlich lästig ist wie ständig wachsende Haare und Fingernägel oder Altersweitsichtigkeit. Die namibisch-deutsche Künstlerin Imke Rust – eine entfernte Cousine von mir, was hier aber nichts zur Sache tut – hat vor einiger Zeit mit ihrem Menstruationsblut gemalt. Sie bemalt auch getrocknete Teebeutel mit zauberhaft filigranen Miniaturtierportraits und gestaltet ausdrucksvoll mehrdimensionale Landkunstinstallationen aus gemusterten Steinen, geflochtenen Blättern oder buntem Sand.
Bei Wikipedia kann man nachlesen, dass Tampons schon von den Ägypterinnen der Pharaonenzeit verwendet wurden und dass die Patente für Tampons sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland in den 1930er bzw. 1940er Jahren von Männern angemeldet worden sind. Es gibt in dem Artikel auch Fotos von einem Tampon-Tauchgerät („zum Prüfen des Entspiralisierungsvorgangs“) sowie vom Aufbau der Tampons von Tampona und o.b. im Vergleich. Die Abkürzung o.b. stand bei der Einführung der Tampons im deutschen Markt übrigens für „Ohne Binde“, und das Wuppertaler Werk dieser Marke, die heute zu Johnson & Johnson gehört, produzierte 2015 rund 2 Milliarden Tampons. Eine andere Marke als o.b. habe ich selbst nie benutzt.
Der Tampon an sich ist für mich ein Meisterstück jenes zweckorientierten Designs, das ultimative Wahrheiten enthüllt, indem es auf alles Überflüssige verzichtet. Die glatte, zusammengepresste Viskosewatte mit den leicht schräg verlaufenden Rillen ist das perfekte Symbol für die zeitlose Einheit von Schönheit und Pragmatismus, nach der (wie ich zu behaupten wage) vor allem Frauen täglich streben. Dass bei der Benutzung des Tampons aus Samtglätte wollige Weichheit wird und aus schneeweißem Glanz rotbraunockerdunkle Marmorierung, ist die vollendete Metapher für den Vorgang von Reifen und Welken, der aus der keimenden Möglichkeiten neuen Lebens überschüssige biologische Restabfälle macht. Das türkisfarbene Band am unteren Ende des Tampons schließlich ist zugleich Nabelschnur und Sicherungsseil, Verbindung mit dem Ursprung und Rettung vor dem Ende.
Auf der englischsprachigen Homepage von o.b. steht der Slogan: „Only what you need, nothing that you don’t“.
Anmerkung: Den in diesem Artikel erwähnten Markenartikel habe ich zum jeweiligen Zeitpunkt jeweils selbst zum regulären Preis erworben. Ich schreibe über das Produkt, weil es mir etwas bedeutet. Materielle Vorteile habe ich durch diese Erwähnung nicht.