nadeletui

Dieses Nadeletui ist ein Geschenk meiner Schwester. Als ich nach meinem Abitur in Hamburg im Herbst 1989 zum Studium nach Marburg ging, gab sie mir ein Nähkästchen mit: Eine ehemalige Zigarrenkiste, durch ein handgemaltes Etikett umgewidmet zum „Nähkästchen für Anja“, gut gefüllt mit Garnen, Sicherheitsnadeln, Ersatzknöpfen – und diesem handgemachten Nadeletui mit Näh-, Stopf- und Stecknadeln. Zu Weihnachten im letzten Jahr, als meine Schwester mit ihrer Familie bei uns zu Besuch war, brauchten wir für irgendetwas eine Nadel. Ich holte das Nadeletui, und als meine Schwester es sah und ihren Töchtern und meinem Sohn erzählte, dass sie es seinerzeit für mich gemacht hatte, guckten die Kinder etwas ratlos.

„Man hat im Leben nie wieder das Gefühl, so viel zu wissen und zu können und so viele Möglichkeiten im Leben zu haben, wie direkt nach dem Abitur“, hat meine Mutter oft gesagt. Als ich zum Studium von zuhause wegging, hörte ich diese Worte als Ermutigung und als Appell, den Zauber des Anfangs zu nutzen, zu genießen und etwas daraus zu machen. Erst viele Jahre später verstand ich, dass hier auch die Lehre mitschwang, die eigene Selbsteinschätzung nie zum Maßstab für die Welt zu machen. Wenn ich mich nicht täusche, war in dem Nähkästchen anfangs auch ein Maßband enthalten, das aber irgendwann irgendwo abhanden gekommen ist. Es gibt seit mehreren Jahren ein neues, das die Aufschrift trägt: „Presented Free With ‚MY WEEKLY‘. The Magazine For Women Everywhere“.

Das Nadeletui brauchte – und brauche – ich für ganz banale Dinge: Hier einen Knopf annähen, dort einen Reißverschluss befestigen; hier eine aufgegangen Naht schließen, dort eine Hose enger oder kürzer machen; hier ein Loch in einer Tasche flicken, dort einen Socken stopfen. Meine Mutter erzählte oft davon, wie sie in der Schule Geschirrtücher stopfen sollte und die Lehrerin sie bestrafte, weil sie glaubte, meine Mutter hätte geschummelt und ein heiles Geschirrtuch mitgebracht. Tatsächlich hatte sie nur so fein gestopft, dass die gestopfte Stelle nicht mehr erkennbar war. Wenn ich etwas mit Nadel und Faden flicke, sieht man immer, wo geflickt worden ist. Bei meinen Eltern zuhause hatten wir nicht nur einen Nähkasten, sondern eine ganze Nähschublade, in der auch Dosen mit Knöpfen, Haken und Ösen aller Art, Woll- und Stoffreste sowie irgendwo abgetrennte, aber möglicherweise wiederverwendbare Reiß- oder Klettverschlüsse, Schulterpolster, Zierkanten und Futtermaterialien aufbewahrt wurden.

In den ersten Monaten wohnte ich in Marburg zur Zwischenmiete in einer möblierten Dachwohnung in der Untergasse, direkt gegenüber der Alten Universität. In der Wohnung gab es einen sehr kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. Auf dem Fernseher verfolgte ich am 9. November 1989 die Berichte vom Fall der Mauer in Berlin. Es gab auch ein Radio mit Kassettenrecorder, auf dem ich morgens die Nachrichten- und Musiksendungen des Hessischen Rundfunks hörte. Am 30. November 1989 geriet das Programm morgens durch ungewöhnliche Verkehrsmeldungen aus dem Tritt. An diesem Morgen wurde Alfred Herrhausen in Bad Homburg durch ein Bombenattentat ermordet.

Nach einigen Monaten zog ich um in eine Wohnung in der Sybelstraße. Die Wohnung hatte durch zwei  vollflächige gläserne Schiebetüren zum Balkon einen weiten Blick auf das Marburger Schloss, über die Stadt und das Lahntal hinab. Irgendwann nähte ich dort ein rückenfreies Abendkleid mit passendem Cape aus einem unregelmäßig gewobenen lila-graufarbigen Seidenstoff. Das Kleid trug ich ein einziges Mal in der Öffentlichkeit, als wir 1994 mit der ganzen Familie meinen Vater zu einer mehrtägigen Feierlichkeit in Helsinki begleiteten, zu der auch ein Ball gehörte. Vor zwei Jahren lieh ich das Cape meiner großen Nichte als Umhang zu ihrem Halloween-Kostüm. Als ich später in Mainz lebte und arbeitete, nähte ich einmal ein Kostüm aus schwarzer Seide für ein modernes Barocktanz- und -singspiel, das wir mit mehreren Mitarbeitern am Institut kreierten und zur Aufführung brachten. Meine Rolle hieß „Avaritia“. Zu dem Kostüm gehörten auch lange, schwarze Handschuhe und ein mit Goldfarbe handverzierter Harnisch. Sowohl das Ballkleid als auch das Kostüm waren handgenäht.

Als Kind hatte ich mit meiner Mutter zusammen Kleider für Puppen und Barbiepuppen genäht. Kleider für Barbiepuppen waren besonders schwierig zu nähen, weil alles so klein war. Die fertiggenähten Ärmel ließen sich oft nicht umstülpen – und wenn doch, dann waren sie oft zu eng geraten. Einfacher war Bettwäsche für das Puppenbett, wofür wir auch die Nähmaschine benutzten. Auf der Nähmaschine meiner Mutter nähte ich später auch (jeweils in den Semesterferien) dottergelbe Vorhänge für das Ferienhaus eines Freundes, Vorhänge für die großen Glastüren meiner Marburger Wohnung und Kissenbezüge für das Sofa meiner Eltern. Erst nach der Geburt meines Sohns habe ich mir selbst eine Nähmaschine gekauft. Darauf habe ich bisher fünf Mützen, drei Loops, ein Kleid für meine große Nichte, einen Schlafanzug aus Ritterstoff, ein Gespensterkostüm für Fasching und einen Josefsumhang für das Krippenspiel genäht. Vor Weihnachten hat mein Sohn in der Schule einen Nikolausstiefel aus Filz genäht, und zu Weihnachten hat er unserem Au-Pair Mädchen ein selbstgenähtes Aufbewahrungssäckchen geschenkt. An Heiligabend waren die Kinder meiner Schwester alle drei in selbstgenähten Pullis, Röcken und Hosen gekleidet.

Die Zigarrenkiste, die ursprünglich als Nähkästchen diente, musste ich vor einiger Zeit in einen Schuhkarton umbetten, da Deckel und Seitenwände nach und nach ab- und auseinanderfallen. Der dänische Zigarrenhersteller Nobel, von dem die Kiste stammt, produziert auch die ‚Petit‘-Zigarillos, die ich viele Jahre lang gelegentlich geraucht habe. Die erste – und vorletzte – Zigarette, die ich in meinem Leben je geraucht habe, habe ich in Marburg auf dem alten Friedhof am Barfüßertor probiert, als ich im Sommer 1989 in der Stadt war, um mir Wohnungen für den Start meines Studiums anzusehen. Die Zigarette hat mir überhaupt nicht geschmeckt. Da ich die angebrochene Zigarettenpackung nicht wegwerfen wollte, habe ich sie mit zurück nach Hamburg genommen und viele Wochen vor meinen Eltern versteckt gehalten. Meine zweite – und letzte – Zigarette rauchte ich einige Jahre später auf einer Silvesterfeier. Sie hat mir auch nicht geschmeckt.

Im Nähkästchen und im Nadeletui sieht es fast immer sehr unordentlich aus.