Diese rosafarbene Schale ist ein Geschenk eines Freundes aus der Zeit, in der ich in Mainz am Institut für Europäische Geschichte arbeitete. Er und ich waren etwa vier Jahre lang ein Paar. Davon wusste außer uns beiden nur meine seinerzeit allerbeste Freundin. Er schenkte mir die Schale nach dem Ende unserer Beziehung mit den Worten: „Das ist vermutlich der schönste Gegenstand, den ich jemals für einen anderen Menschen gekauft habe“. In jenen Wochen schenkte er mir auch eine DVD der Verfilmung von Benoîte Groults Roman „Salz auf unserer Haut“ und schickte mir mehrere kopierte Kapitel aus einem amerikanischen Psychologie-Ratgeber über Lebens- und Beziehungsphasen.
Als wir uns trennten, war ich seit einigen Wochen in einen anderen Mann verliebt. Der war ein Freund von Freunden, arbeitete im Marketing bei einem großen Unternehmen im Rhein-Main-Gebiet und hatte eine Dissertation über ein wichtiges Werk der Barock-Musik geschrieben. Er fuhr ein Cabrio, in dem er mich nach den Treffen mit den gemeinsamen Freunden nach Hause brachte. Auf seinem CD-Spieler lief meistens Peter Gabriel. An den Wochenenden fuhr er Rennrad in den Hügeln rund um Mainz und Wiesbaden. Unter der Woche, während ich bei einem Klienten in Dortmund arbeitete, schrieb er mir lange Emails voller literarischer Anspielungen und lateinischer Zitate. Im August 2002 gingen wir zusammen in das Konzert der „Under Rug Swept“-Tour von Alanis Morissette in der Frankfurter Festhalle. Als ich ihn traf, hatte er sich kurz vorher von seiner langjährigen Freundin getrennt. Den Grund dafür erzählte er mir erst einige Zeit später: Er glaubte damals, herausgefunden zu haben, dass er schwul war. Wenige Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten, hatte er einen schweren Rennradunfall. Aus der Reha schrieb er mir eine SMS, dass er seine Zehen wieder bewegen könne. Seitdem habe ich nie wieder von ihm gehört. Das Internet weiß, wo er jetzt lebt und was er jetzt macht.
Der Freund, der mir die rosafarbene Schale schenkte, wollte unsere Beziehung geheim halten, weil er fürchtete, dass sie ihm bei seinem Arbeitgeber Probleme bereiten könnte. Ich ließ mich darauf ein, weil es mir nichts bedeutete, ob andere von unserer Beziehung wussten oder nicht. Was mir etwas bedeutete: Gemeinsam an sonnigen Nachmittagen mit dem Fahrrad am Rhein entlang oder mit dem Auto auf die andere Seite des Rheins zu fahren; gemeinsam in Eltville im Schwimmbad auf der Liegewiese in der Sonne zu liegen; gemeinsam an den Weinständen am Eltviller Rheinufer, beim Weingut Kögler, im Schloss Johannisberg, im Kloster Eberbach oder in den zahllosen Straußwirtschaften im Rheingau (oder auch einmal auf „dieser“ Seite des Rheins in Bodenheim oder Nackenheim) Spundekäs‘ zu essen und Riesling oder Grauburgunder zu trinken. Unterwegs hörten wir in seinem Auto laut Musik, und ich brannte ihm CDs mit unseren Lieblingsliedern, die von A-ha über Carlos Santana, Dido, Enya, Gianna Nannini, Herbert Grönemeyer, Madredeus, Mark Knopfler, Roxette und die Scorpions bis zu Zucchero reichten. Als Gianna Nannini im Sommer 1999 beim Mainzer Zeltfestival auftrat, gingen wir beide mit jeweils anderen Freunden in ihr Konzert und trafen uns absichtlich zufällig am Sektstand. Mittags verabredeten wir uns gelegentlich in der Mainzer Innenstadt zum Essen; abends mieden wir die Weinstuben, in denen wir uns an anderen Tagen mit jeweils anderen Freunden trafen.
Drei Mal unternahmen wir gleichzeitig für einige Tage Reisen an denselben Ort, weil er oder ich irgendwo etwas zu erledigen hatten und es sich relativ unauffällig einrichten ließ, dass der jeweils andere ebenfalls dorthin reiste. Auf einer dieser Reisen machte er ein Foto von mir, das ich 2001 verwendete, als ich mich bei McKinsey bewarb. Als Bewerbung verschickte ich eine Powerpoint-Präsentation, die sich erst öffnete, wenn man auf den Einleitungstext: „Ich bin neugierig. Sie auch?“ mit „Ja“ antwortete. Als Hintergrundmusik lief zu meiner Animation der Song „Emporio“ von Anthony Barthoni, den Wladimir Klitschko damals als Hymne nutzte – unter anderem vor seinem legendären Kampf gegen Chris Byrd am 14. Oktober 2000, der ihm den Weltmeistertitel einbrachte, den Byrd kurz zuvor Wladimirs (im Kampf verletzten) Bruder Vitali abgenommen hatte. Bei der Suche nach dem Lied, dessen Titel mir heute nicht mehr einfiel, stieß ich auf ein Interview, das Dieter Thomas Heck Ende 2000 im Showpalast mit Klitschko geführt hat. Darin sagt Klitschko unter anderem: „Angst ist ein Geschenk der Natur“.
Als ich anfing, bei McKinsey zu arbeiten, fürchtete der Freund, der mir die rosafarbene Schale schenkte, dass ich das Interesse an ihm verlieren würde, weil ich plötzlich ein so anderes Leben führte und so viel mehr Geld verdiente als er. Es wurde schwieriger, gemeinsame Unternehmungen zu organisieren, weil ich von montags bis donnerstags bei Klienten unterwegs war und er wochenends oft Verpflichtungen hatte, von denen er sich nur hätte entschuldigen können, wenn er die Existenz unserer Beziehung zugegeben hätte. Beim gegenseitigen Versuch, uns morgens oder abends auf dem Handy zu erreichen, scheiterten wir oft an schlechten Verbindungen oder zeitversetzten Terminplanungen. Irgendwann fand ich heraus, dass er auf einer Dienstreise in einem Hotel eine Nacht mit einer Arbeitskollegin aus Belgien verbracht hatte. Er entschuldigte sich und erklärte mir, dass er sich vernachlässigt gefühlt habe. Irgendwie kam uns über all dem die Liebe abhanden, und mit der Zeit dann auch die restliche Freundschaft. Bei unserem letzten Kontakt vor fast sechs Jahren schrieb er mir, dass er jetzt mit seiner Freundin in einer Wohnung am Rheinufer wohne und einen ziemlich großen Garten habe: „Der hilft mir beim Überleben und ich ihm“.
„Questo amore“, singt Gianna Nannini im Refrain ihres Liedes „Fotoromanza“, „è una lama sottile; è una scena al rallentatore“, und weiter: „Questo amore è una bomba all’hotel; questo amore è una finta sul ring“.