Diese Weihnachtsbaumanhänger in Form verschiedener Vögel besitze ich seit den frühen 1990er Jahren. Meine Eltern hatten sie damas von einer gemeinsamen China-Reise mitgebracht und schenkten sie mir in einem meiner ersten Studienjahre in Marburg, damit ich etwas hätte, um mein Adventsgesteck zu verzieren. Ursprünglich waren es sechs Vögel, von denen einer mir über die Jahre genauso abhanden gekommen ist, wie die Pappschachtel mit den passend vorgestanzten Aussparungen zur Aufbewahrung der Anhänger.
Mein Adventsgesteck dekorierte ich damals in einer kaum esstellergroßen, sternförmigen, achtzackigen Schale aus lindgrünem Steingut mit vier Kerzenhaltern. Diese Schale war so lange ich denken kann die Basis für das Adventsgesteck in meinem Elternhaus gewesen, das in jedem Jahr mit andersfarbigen Kerzen bestückt wurde. Über die jeweilige Kerzenfarbe sprachen wir bereits Wochen im Voraus in Vorfreude auf die Adventszeit. Irgendwann in den 1980er Jahren rechnete ich in der Vorweihnachtszeit lange daran herum, in welcher Reihenfolge und wie lange jeweils man die Kerzen am Adventsgesteck anstecken und abbrennen müsste, um zum vierten Advent wieder vier gleich lange Kerzen zu haben.
Um die vier Kerzen herum steckte meine Mutter Tannenzweige aus dem Garten, an denen einige wenige Tannenbaumanhänger befestigt wurden. Bis heute sind das in meinem Elternhaus – zwischenzeitlich in einer anderen Adventsgesteckschale – fünf goldfarbene Engel mit verschiedenen Musikinstrumenten. Ich meine, dass auch diese Engel einmal zu sechst gewesen sein müssten. Am Heiligen Abend wurden die Engel dann an den obersten Zweigkranz des geschmückten Weihnachtsbaums umgehängt. Das Umhängen war in meiner Erinnerung vor allem deshalb ein bedeutendes Ereignis, weil damit das Schmücken des Weihnachtsbaums abgeschlossen war. Das war für mich als Kind deswegen besonders wichtig, weil vorher sowohl die Beschaffung als auch das Aufstellen und Dekorieren des Baums praktisch jedes Jahr zu Stimmungsspannungen zwischen meinen Eltern führten.
Als ich sehr klein war, kauften wir unseren Weihnachtsbaum bei einem Weihnachtsbaumstand auf dem Markt, und mein Vater trug ihn nach Hause. In einem besonders schneereichen Jahr transportierten wir den Baum sogar auf dem Rodelschlitten. Als ich drei oder vier Jahre alt war, brachte uns der Stiefvater meiner Mutter eine ganze Schar kleiner Tannenbäume irgendwo aus Niedersachsen mit, die meine Eltern im Garten verteilt einpflanzten. Von da an wurde jedes Jahr einer der Bäume als Weihnachtsbaum ausgeguckt. Die Diskussion darüber, welcher Baum im jeweiligen Jahr geeignet war, begann meist schon im Sommer. Dabei spielten unter anderem der Standort des Baums (in Bezug auf andere Pflanzen), seine Größe (in Bezug auf die Höhe des Wohnzimmers) und seine Wuchsform (in Bezug auf die Eignung als Weihnachtsbaum) eine Rolle, und das Für und das Wider verschiedener Bäume wurde ausführlich abgewogen.
Je älter die Bäume wurden, desto größer wurden sie auch. Je älter meine Eltern wurden, desto häufiger kam es deshalb vor, dass sie mithilfe einer langen, mehrteiligen Gartenleiter, eines Seils, einer Axt und einer Säge eine Baumspitze in mehreren Metern Höhe über dem Boden fällen mussten. Meist kletterte mein Vater auf die Leiter, während meine Mutter das Seil hielt, um die als Tannenbaum ausgewählte Baumspitze zu lenken und von unten Anweisungen über das richtige Vorgehen beim Fällen hinaufzurufen. Natürlich konnte sie von unten viel besser sehen, wo genau mein Vater Axt oder Säge hätte ansetzen müssen. Es war deshalb unausweichlich, dass mein Vater ihre Anweisungen nicht ganz korrekt umsetzen konnte, so dass sich die beiderseitige Nervosität – ebenso wie die von uns Kindern als Zuschauern – steigerte, bis schließlich die Baumspitze abgesägt war und (erstaunlicherweise immer in die richtige Richtung) herabstürzte. In späteren Jahren, wenn ich erst nach dem Fällen des Baums nach Hamburg kam, war ich immer froh, wenn ich per Telefon oder Email die Nachricht erhielt, dass der Tannenbaum erfolgreich und unfallfrei gefällt worden war.
Der Baum akklimatisierte sich dann über zwei bis drei Tage, zunächst auf der Terrasse und dann in der Küche oder im Flur. Erst am Morgen des Heiligen Abend durfte der Baum in unser Wohnzimmer. Viele Jahre lang diente uns als Weihnachtsbaumständer ein quadratischer Steintopf mit einem innen montierten Metallring, der mit vier Metallverstrebungen am Topf befestigt war. Nachdem mein Vater den Baum (meist nach Entfernung einiger bodennaher Zweige) in den Ring praktiziert hatte, dirigierte meine Mutter die Ausrichtung des Baums. Sie ging um den Baum herum, besah ihn im Abstand von ein bis zwei Metern aus allen Richtungen und kommentierte: „Etwas mehr zur Wand!“, „Jetzt wieder zurück!“, „Mehr zum Tisch!“, „Jetzt ist er zu weit zum Sofa geneigt!“. Mein Vater lag unterdessen auf dem Bauch unter dem Weihnachtsbaum und versuchte, durch Lösen und Festziehen von vier in den Metallring eingelassenen Schrauben den Baum in die eine oder andere Richtung zu neigen. In meiner Erinnerung dauerte das angespannte Hin-und-Her gefühlte Ewigkeiten, in denen wir Kinder darauf warteten, endlich den Baum schmücken zu dürfen.
Wenn der Baum so stand, dass meine Mutter ihn als senkrecht ausgerichtet empfand, holte mein Vater die Stehleiter, um Wachskerzen und elektrische Lichterketten anzubringen. Die Lichterketten mussten – so mochte es meine Mutter – möglichst tief innen im Baum sitzen; die Wachskerzen dagegen natürlich – ganz gerade in die wackligen Metallhalter gesteckt – an den frei herausragenden Zweigspitzen. Wenn mein Vater die Lichterketten verteilt hatte, begutachtete meine Mutter die Verteilung der elektrischen Kerzen: „Da ist noch eine dunkle Lücke!“, „Hier sind zu viele zu nah beieinander!“, „Da oben ist eine elektrische Kerze direkt neben der echten!“. Erst wenn alle Kerzen am richtigen Ort waren, konnte das Schmücken beginnen. In den allerersten Jahren, an die ich mich erinnere, schmückten wir den Baum noch abwechselnd „rot“ und „silbern“ (mit Lametta), später immer bunt. Auch beim Schmücken gab es eine vorgegebene Reihenfolge: Zu allererst kamen wenige, schwere Baumanhänger, die direkt unter die echten Kerzen platziert werden mussten, damit die Zweige nach unten gezogen wurden. Dann kamen die glänzenden Christbaumkugeln an die Reihe, die – wie die elektrischen Kerzen – innen im Baum sitzen mussten, damit, wie meine Mutter sagte, der Baum von innen leuchtete. Dann folgten bunte Anhänger, die außen an den Tannenspitzen aufgehängt wurden, damit man die zahlreichen Figuren gut sehen konnte. Das Lametta, das noch aus den „silbernen“ Jahren in der Pappkiste mit dem Weinachtsbaumschmuck lag, wurde nicht mehr benutzt. Als letztes, ehe die Leiter weggeräumt wurde, hängte mein Vater die goldenen Engel vom Adventsgesteck an die Tannenbaumspitze um. Und seit ich einen eigenen Weihnachtsbaum in meiner Hamburger Wohnung habe, hängen dort am obersten Zweigkranz die fünf vogelförmigen Anhänger.
Beim Schmücken des Baums in meinem Elternhaus lief immer das Radio mit der jeweiligen Weihnachtssendung des Norddeutschen Rundfunks in seiner Mischung aus weihnachtlichen Liedern, Geschichten und Interviews mit Menschen, die an den Weihnachstagen arbeiteten. Wenn der Baum fertig geschmückt war, schaltete mein Vater die Lichterketten wieder aus. Zum Mittagessen gab es dann Suppe, oft Linsen-, Erbsen- oder Bohnensuppe. Dabei guckten wir alle auf den geschmückten Baum, und meistens bemerkte meine Mutter etwas wie: „Jetzt sieht er von hier aus doch aus, als ob er etwas nach vorne geneigt ist“. Im Radio kamen unterdessen die Nachrichten, die mit ihren nüchternen Mitteilungen aus aller Welt in seltsamem Gegensatz zum Zauber der Weihnachtsmusik – und -erzählungen standen.
Abends, wenn wir aus der Kirche kamen, sahen wir den Baum schon durch das Fenster im Wohnzimmer glänzen. Er leuchtete von innen mit Kugeln und elektrischen Kerzen. Und auf wundersame Weise waren jedes Jahr während unseres Kirchbesuchs auch Geschenke unter dem Baum aufgetaucht – selbst wenn ich akribisch darauf geachtet hatte, dass keiner der Erwachsenen nach uns Kindern das Haus verließ oder vor uns Kindern das Haus betrat. Mein Vater durfte vor uns anderen ins Wohnzimmer, um die Wachskerzen anzuzünden. Als wir etwas größer waren, spielten meine Schwester und ich währenddessen Weihnachtslieder auf dem Klavier im Flur. Dann läutete eine Glocke, und wir alle durften ins Wohnzimmer, um den Weihnachtsbaum und die Geschenke anzustaunen. In manchem Jahren sagte eine von uns Schwestern ein Gedicht auf; in manchen Jahren kochte einer von uns noch schnell warmen Tee; in manchen Jahren stürzte mein Vater hektisch in den ersten oder zweiten Stock des Hauses, weil ihm eingefallen war, dass er ein Geschenk vergessen hatte.
Und schon immer und bis heute umarmt, bevor die Bescherung beginnt, jeder aus der Familie jeden anderen, und jeder wünschte jedem: „Fröhliche Weihnachten!“