brotmesser

Dieses Brotmesser besitze ich, seit ich 1989 in meine erste eigene Wohnung in Marburg zog. Als meine Schwester mich vor einiger Zeit besuchte, meinte sie beiläufig: „Über das Brotmesser müsstest Du eigentlich auch einmal einen Blog-Beitrag schreiben“. Ich fragte, wieso. Sie fragte zurück: „Ist das nicht das Brotmesser aus unserem Elternhaus?“. Ich sagte: „Nein. Das hat einen orangefarbenen Griff und liegt immer noch dort in der Küche in der Messerschublade. Wahrscheinlich benutzt unser Vater es auch noch regelmäßig“. Sie sagte: „Na, dann eben nicht“.

In dem Haus, in das meine Eltern mit mir umzogen, als ich zwei Jahre alt war (und das ich als mein Elternhaus empfinde, weil ich mich an das Reihenhaus, in dem wir vorher wohnten, praktisch nicht erinnere), gibt es zwischen Küche und Esszimmer eine Durchreiche. Auf der Küchenseite war die Durchreiche mit zwei weißen Klapptüren verschlossen, die meine Eltern später abmontierten; auf der Esszimmerseite steht bis heute davor eine dunkelbraune Schrankwand, der an der passenden Stelle die Rückwand fehlt, so dass man durch die entsprechenden Schranktüren die Durchreiche bedienen kann. Vor den Mahlzeiten stellten wir von der Küche aus alles, was auf den Tisch sollte, in die Durchreiche, um dann damit im Esszimmer den Tisch zu decken; nach den Mahlzeiten stellten wir vom Esszimmer aus abgegessene Teller und gebrauchtes Besteck, ausgetrunkene Gläser, leere Schüsseln und Töpfe, Marmeladen- und Honiggläser, Teekannen, Saftbehälter und alle anderen Überbleibsel in die Durchreiche, um sie dann in der Küche wegzuräumen.

An der Durchreiche waren wir Kinder oft für die Esszimmerseite zuständig, und beinahe jedes Mal ging das Ein- oder Aufräumen auf der Küchenseite in einem anderen Tempo voran als das Aus- oder Einräumen auf der Esszimmerseite. Beim Tischdecken war die Durchreiche oft zu voll. Dann wurden wir aus der Küche ermahnt, den Tisch bitte schneller zu decken. Manchmal war die Durchreiche leer, und wir warteten auf die nächsten Gegenstände, die auf den Tisch sollten. Beim Abräumen war die Durchreiche oft schneller leer, als wir Sachen hineinstellen konnten. Dann wurden wir aus der Küche ermahnt, den Tisch bitte schneller abzudecken. Manchmal war die Durchreiche voll, und wir schoben bei dem Versuch, noch mehr Geschirr und Lebensmittel unterzubringen, so lange nach, bis auf der Küchenseite etwas auf den Boden fiel. Wenn keiner es sah, kletterten wir gelegentlich zum Spaß selbst durch die leere Durchreiche, was auf der Esszimmerseite besonders aufregend war, weil wir nie sicher waren, ob das Regalbrett uns halten würde. Besonders lustig war das Durchklettern, wenn von der Esszimmerseite die Schranktüren verschlossen waren, so dass wir das Schloss von innen aufprokeln mussten, um uns zu befreien.

Auf der Küchenseite war in der Einbauküche, die sich im Haus befand, als wir einzogen, eine Brotschneidemaschine integriert, die man mit einem schwungvollen Griff aus dem Unterschrank auf die Arbeitsfläche heben könnte. Mittels einer Kurbel setzte man dann das Sägezahnrad in Bewegung, das die Brotscheiben vom Laib schnitt. Ich hatte als kleines Kind großen Respekt vor der Brotschneidemaschine, da meine Eltern mir verboten hatten, sie zu benutzen. Viele Jahre später verschwand die Brotschneidemaschine mit der alten Einbauküche und wurde nicht ersetzt. Schon in den Jahren davor hatten meine Eltern sie kaum noch benutzt. Stattdessen schnitt meine Mutter unser Brot mit der Hand mit dem Brotmesser mit dem orangefarbenen Griff. Sie legte besonders Wert darauf, dass die Scheiben sehr dünn wurden und sehr gleichmäßig waren. Wenn mein Vater ausnahmsweise einmal Brot schnitt, kommentierte meine Mutter regelmäßig, dass das Brot viel zu dick oder schief geschnitten sei. Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind zuhause jemals selbst eine Scheibe Brot abgeschnitten zu haben.

Mit meinem eigenen Brotmesser habe ich seit 1989 an jedem einzelnen Tag, an dem ich zuhause war, Brot geschnitten. Bei nur einer Scheibe pro Tag wären das in 29 Jahren exakt 10.585 Scheiben. Vermutlich sind es ein paar mehr, weil ich meist mehr als eine Scheibe Brot am Tag esse; und vermutlich sind es ein paar weniger, weil ich ja nicht an jedem einzelnen Tag zuhause war. Vor einigen Jahren bemerkte mein Schwager bei einem Besuch, dass ich wohl ein neues Brotmesser bräuchte. Ich fragte verwundert nach, wieso. Er bemerkte, dass er nicht verstehe, wie ich mit dem Brotmesser überhaupt Brot schneiden könne, so stumpf wie es sei. Kurz darauf schenkte meine Tante mir zu Weihnachten ein neues Brotmesser, von dem mein Schwager sofort begeistert war. Ich konnte mit dem neuen Brotmesser keine einzige Scheibe rissfrei und gleichmäßig schneiden. Das Messer liegt seitdem ungenutzt in einer Schublade, und ich verwendete weiterhin mein altes Brotmesser.

Seit ich angefangen habe, selbst Brot zu backen, war ich immer häufiger unzufrieden mit meinem Brotmesser. Bei lockerem Brot mit großporiger Krume drückt das Messer das Brot so zusammen, dass statt Scheiben flache Fladen entstehen; bei vollkornigem Brot mit Körnern weicht das Messer den festeren Teilen so aus, dass statt Scheiben bröckelige Brotstücke abfallen. Frisches Brot ist dem Messer oft zu nachgiebig; älteres Brot ist dem Messer oft zu stur. Fast scheint es, als ob das Messer sich nach all den tadellos geschnittenen Scheiben nun nicht mehr auf die Vielfalt meiner Backexperimente einlassen mag. Ich habe mich mit der Entscheidung nicht leicht getan, aber vor einigen Wochen habe ich tatsächlich ein neues Brotmesser gekauft. Das neue Messer hat eine etwas längere Klinge und einen etwas helleren Griff, und es schneidet tadellose dünne, gleichmäßige Scheiben – egal, welche Konsistenz mein Brot hat. Die beiden Brotmesser liegen jetzt nebeneinander in der Küche auf der Arbeitsfläche. Was ich mit dem alten Brotmesser machen werde, weiß ich noch nicht.

Wann immer bei uns zuhause jemand anderes als meine Mutter Brot geschnitten hatte, beäugte sie den angeschnittenen Laib kritisch, seufzte, griff zum Brotmesser und schnitt so viele schiefe, unvollständige oder bröckelige Scheiben ab, bis die Schnittfläche wieder rechtwinklig zur Brotachse lag und glatt war. Die kaputten Scheiben mussten wir alle dann zuerst aufessen, ehe es wieder neu abgeschnittene Scheiben gab. Mir schmeckten diese Scheiben immer besonders gut, weil jeder Bissen mehr Belag als Brot enthielt. Das – ein belegtes Brot, bei dem man mehr Belag als Brot schmeckt – war im übrigen auch der Grund, warum meine Mutter dünne Brotscheiben besonders schätzte. Gleichzeitig rutschte von den so entstandenen halben, flach zulaufenden Scheiben beim Essen der Belag leicht herunter, so dass Marmelade, Käse und Aufschnitt auf dem Frühstücks- oder Abendbrotbrett oder auf dem Tischset landeten.

„Ich musste ja schon wieder“, sagte meine Mutter bei diesen Gelegenheiten, „das Brot gerade schneiden“.