Dieser Marienkäfer stammt von einem Luftgewehrschießstand auf einem Weinmarkt in Mainz. Irgendwann in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre schoss einer meiner Kollegen am Mainzer „Institut für Europäische Geschichte“ den Käfer und schenkte ihn mir. Damals hatte ich gerade mein allererstes eigenes Auto gekauft, einen quietschblaumetallicfarbenenen kleinen Peugeot. Der Marienkäfer bekam einen Platz auf der vorderen Ablage direkt links unter der Windschutzscheibe. Denselben Platz behielt er auch, als ich den kleinen blauen Peugeot in den frühen 2000er Jahren gegen einen silbermetallicfarbenen 206cc eintauschte.
Die erste Fahrt mit meinem neuen blauen Auto unternahm ich nach Marburg zur Feier eines runden Geburtstag meiner dort lebenden Großtante mütterlicherseits. Sie feierte damals im Restaurant „Dammühle“, etwas außerhalb der Stadt. Es war ein wunderschöner, sonniger Tag – vermutlich also nicht ihr Geburtstag (der im März war), sondern ein Tag irgendwann später im Jahr. Die Fahrt von Mainz nach Marburg und zurück war die zweite lange Autofahrt in meinem Leben, die ich ganz allein unternahm. Die erste hatte mich bei schneereichem Winterwetter im Februar 1991 mit dem geliehenen VW Polo der Schwester eines Freundes von Hamburg nach Marburg geführt – mit einem Abstecher nach Kemme, wo ich an der Beerdigung des Stiefbruders meiner Mutter teilnahm. Als ich einige Wochen später von Marburg zurückfuhr, rutschte ich auf eisglattem Kopfsteinpflaster die steile Kugelgasse so unkontrolliert hinunter, dass ich bis heute nicht verstehe, wieso ich mit dem Auto nicht in eins der direkt an der Gasse stehenden Fachwerkhäuser gekracht bin.
Meine Eltern besaßen aus Überzeugung kein Auto (und auch keinen Fernseher, aber das ist eine andere Geschichte). Mein Vater soll gerüchteweise zuletzt mit ungefähr 20 Jahren eine längere Strecke selbst gefahren sein. Meine Mutter fuhr regelmäßig und mit großem technischen Geschick, wenn sie in Afrika auf Expedition war – viele Jahre lang einen Landrover oder einen VW-Bus der Universität Stellenbosch, später einen VW-Bus oder einen Golf von einer Autovermietung. Von ihr lernte ich, wie man Schlaglöcher umfährt, in sandigem, matschigem oder unebenem Gelände anfährt, Benzin, Öl oder Wasser nachfüllt und Reifen wechselt. Wenn wir in Afrika mit dem Auto steckengeblieben waren, durfte ich – als leichtestes Mitglied der Expedition – einige Male selbst das Auto anfahren, während alle anderen anschoben. Auf einer Reise durch Kenia brach uns das Auto einmal so gründlich zusammen, dass wir zu dritt mit dem Bus weit aus dem Norden zurückreisen mussten. Im Bus reisten auch Hühner mit, irgendwo auf freier Strecke stiegen zwei unbekleidete Reisende ein, die ihr Gepäck in Körben auf dem Kopf balancierten, und bei Sonnenuntergang hielt der Busfahrer an, um gemeinsam mit einigen Mitreisenden Gebete zu sprechen.
Auch in dem silbernen Peugeot 206cc, den ich nach dem blauen Auto kaufte, saß der Marienkäfer an demselben Platz vorne links unter der Windschutzscheibe. Einer meiner Lehrer am Gymnasium hatte an diesem Ort in seinem Saab eine Plüschmaus platziert, die er „Sebastian Maus“ nannte. Er erzählte gerne und oft, dass Sebastian Maus auch der Sinngeber für das Autokennzeichen gewesen sei, das mit HH-SM begann. Meine Mainzer Autokennzeichen begannen alle mit MZ-HH, und die Strecke von Mainz nach Hamburg und zurück war auch diejenige, für die ich die Autos am meisten nutzte. Für den silbernen Peugeot wählte ich als Zahl für das Kennzeichen die 409. Ich machte damals ein Beratungsprojekt bei einem Edelstahlproduzenten, bei dem ich gelernt hatte, dass 409 eine Edelstahlqualität war, die besonders für Auspuffrohre genutzt wurde. Nach meinem Umzug nach Hamburg meldete ich das silberne Auto um auf HH-AH 1773, und einige Jahre später verkaufte ich es und kaufte einen schwarzen BMW X3, der das Kennzeichen HH-A 1492 bekam.
Da ich in Hamburg mein Auto noch viel weniger benutzte als in Mainz, lieh ich es (damals das silberne Cabrio) im Sommer 2008 zwei Freundinnen, die damit ihre Sabbatical-Reise zum Nordkap unternahmen. Auch meine Schwester lieh das Auto gelegentlich aus, so dass es einige Zeit in Berlin verbrachte. Als meine große Nichte 2008 geboren wurde, fuhren meine Schwester und mein Schwager mit dem Auto ins Krankenhaus (und später mit dem Baby zurück nach Hause). Mit dem schwarzen BMW und meinem gerade einige Monate zuvor geborenen Sohn fuhr ich im Sommer 2010 erst selbst nach Berlin (wo wir einen Monat wohnten) und später in die Dordogne. Im Winter 2010 verlieh ich das Auto über ein Wochenende an einen Freund, und als ich es einige Wochen nach der Rückgabe an dem angegebenen Abstellplatz irgendwo in Eimsbüttel wieder benutzen wollte, war es weg. Der erste Polizist, dem ich den Fall am Telefon schilderte, lachte und schlug vor, ich solle noch etwas länger im Viertel suchen: „Der Wagen steht bestimmt einfach woanders“. Der zweite Polizist, mit dem ich – nach mehreren Tagen erfolgloser Suche – sprach, meinte: „Ach – der ist bestimmt längst über die Grenze. BMWs werden hier im Moment dauernd geknackt und gestohlen“. Seitdem habe ich kein eigenes Auto mehr.
Da die vordere Konsole im BMW so gestaltet war, dass der Marienkäfer dort nicht sitzen konnte, war er nach dem Wechsel auf dieses Auto zuhause geblieben. Als ich ihn für diesen Blog-Beitrag aus dem Regal suchte, war ich überrascht, dass er keine Punkte hat. Wenn ich ihn ansehe, kommt mir unpassenderweise das Lied: „Maikäfer flieg’…“ in den Kopf. Das Lied ist übrigens – wie Lotta Wieden in einem schönen Artikel für die FAZ vor einigen Jahren recherchiert hat – viel älter, als ich angenommen hatte. Maikäfer habe ich in der freien Natur noch nie bewusst gesehen, sondern kenne sie nur aus „Max und Moritz“. Wenn ich von Mainz aus mit dem Auto zu Weihnachten nach Hamburg nach Hause fuhr, hörte ich am liebsten Anne Sofie von Otters Album „Home for Christmas“ (1999). In dem ersten Lied auf dem Album heißt es:
„For a while I’m eternal –
that’s the only thing I know,
I am here and we share our dreams
about our destination.“
Anmerkung: Die in diesem Artikel erwähnten Autos haben die Betroffenen bzw. ich selbst zum jeweiligen Zeitpunkt jeweils selbst zu regulären Preisen erworben. Ich schreibe darüber, weil die Automarken Teil der Geschichte sind. Materielle Vorteile habe ich durch die Erwähnung nicht.