schnecke

Diese silberne Schlüsselanhängerschnecke habe ich Ende der 1990er Jahre in Mainz in der „Silberecke“ an der Ecke Hintere Bleiche/Neubrunnenstraße gekauft. Sie ersetzte eine ebenfalls silberne Schlüsselanhängermaus, die ich um 1990 von meinem ehemaligen Lateinlehrer geschenkt bekommen hatte, der für lange Zeit ein Freund unserer Familie und für kurze Zeit auch mein Freund war. Er besaß einen silbernen Schlüsselanhängerelefanten. Bei uns in der Familie trug er den Spitznamen „der Breite“, nachdem jemand einmal geäußert habe, er sei ja nicht dick (was er auch nicht war), sondern lediglich etwas breit (was er war, da er in seiner Jugend Rudern als Leistungssport betrieben hatte).

Mit dem Breiten fuhren wir in wechselnden Familienkonstellationen im Sommer nach Dierhagen auf den Darss, wo seine Tante ein Ferienhaus hatte. Obwohl die Tante seit Jahrzehnten in Hamburg lebte, war das Haus auf wundersame Weise über die gesamte Zeit der DDR in ihrem Besitz geblieben. Es roch nach feuchtem Holz und altem Linoleum, und direkt gegenüber konnte man durch die Dünen zwischen den Windflüchtern zur Ostsee laufen und im Sonnenuntergang baden. Wenn wir zurückkamen, rieselte der feine Sand vom Strand noch wochenlang aus Kleidertaschen und Hosenaufschlägen. Zwei Mal fuhr ich mit dem Breiten als Begleiterin für seine Schülerfahrten im Herbst nach Rom; beim zweiten Mal reiste auch meine Mutter mit, und meine Schwester war Teil der Schülergruppe. Wir wohnten in einer Jesuitenpension unmittelbar nördlich der Piazza Navona in der Via dei Gigli d’Oro. Die Pension hatte eine große Dachterrasse mit traumhaftem Rundblick vom Vatikan bis zum Altare della Patria. An einem der ersten Tage der zweiten Reise besuchten wir die Engelsburg, und beim Verlassen eines niedrigen Ganges schlitzte sich der Breite an einem niedrigen Bogendurchgang die Kopfhaut so heftig auf, dass er mit dem Krankenwagen ins Ospedale Santo Spirito gebracht werden musste, um den 10cm langen Schnitt nähen zu lassen. Meine Mutter übernahm die Schülergruppe und setzte das Stadterkundungsprogramm für den Tag fort. In den Erzählungen der Schüler verschwammen später eine riesige Blutlache, ein endloser Fußmarsch entlang einer römischen Mauer und ein mehrfach in Ohnmacht fallendes Mädchen zu einer dramatischen Renaissance-Szene im Stil von Caravaggio oder Artemisia Gentileschi. Noch Jahre später glaubte ich bei einer erneuten Besichtigung der Engelsburg die Blutspuren des Unfalls ausmachen zu können.

Die Schlüsselanhängermaus erwies sich über die Jahre als unpraktisch. Sie war einerseits zu leicht, um wirklich zuverlässig in der Tasche anzuzeigen, wo sich das Schlüsselbund gerade befand. Andererseits hatte sie mit Ohren, Ärmchen, Beinchen und Schwanz zu viele herausragende Enden, die sich in Taschenfuttern oder Reißverschlüssen verheddern konnten, so dass sie oft hängen blieb oder Löcher in Stoffe riss. Als ich in dem Mainzer Silberladen artgleiche Schlüsselanhänger entdeckte, freute ich mich daher sehr über die Gelegenheit, die Maus zu ersetzen. Zur Auswahl standen damals zahlreiche Anhänger in Form von Gegenständen, die Hobbies repräsentieren sollten: Golftaschen, Autos oder Tennisschläger. Dann gab es glücksverheißende Formen wie Herzen, Kleeblätter oder Schweine. Und es gab Tiere, von denen mir ein Frosch gefiel (den ich meiner Schwester schenkte) – und die Schnecke, die ich für mich selbst kaufte.

Ungefähr zu derselben Zeit, zu der ich die Maus gegen die Schnecke tauschte, begann ich einen Briefwechsel mit meinen entfernten Onkel Gerhard Schack, einem Cousin meiner Großmutter mütterlicherseits. Gerhard war Kunstliebhaber und -sammler und ein Freund von Horst Janssen. Obwohl er in Hamburg lebte, lernte ich ihn eigentlich erst kennen, als ich schon aus Hamburg weggezogen war – was daran lag, dass Gerhard über viele Jahre aus verschiedenen Gründen Abstand von großen Teilen der Familie hielt. Gerhard verschickte seinerzeit alle seine Briefe mit abgestemptelten, abgelösten und mit Klebstoff wieder aufgeklebten Briefmarken, die er nach Durchstreichen der (von ihm mit Schreibmaschine getippten) Empfängeradresse mit handschriftlich eingefügten Änderungen als Retouren oder Weiterleitungen kennzeichnete. Gemeinsam perfektionierten wir später die Kunst, mit den geprägten Korkenverschlüssen von Whisky- oder Portweinflaschen zusätzlich verwischte Stempel auf den benutzten Marken anzubringen. Die Post hat diese Kunstwerke immer anstandslos und pünktlich an die jeweiligen Adressaten zugestellt.

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Gerhard schickte mir eigenhändig bearbeitete Kunstwerke aller Epochen, kreative Kochrezepte, selbstgemachte Limericks oder Einträge aus seinem legendären „Definitorium“: „Der TORSO ist keine Straße in Rom, sondern ein schwerverwundeter spanischer Stierkämpfer“, oder: „ZUGSPITZE sind keine Lokomotiven, sondern eine extra für lange Bahnfahrten gezüchtete Hunderasse“, oder: „Das KAPITOL ist kein besonders langes Romankapitel, sondern das durch seine vielen Druckfehler berühmte Hauptwerk von Karl Murcks“. Ich revanchierte mich mit verfremdenden Re-Kreationen von Gemälden oder Zeichnungen, eigenen Kochrezepten, neuen Einträgen für das Definitorium und angeblichen Trouvaillen aus meiner historischen Forschungsarbeit. Wenn ich nach Hamburg kam, fuhr ich zum Frühstück zu Gerhard und beguckte seine neuesten Erwerbungen (oft japanischer) Kunst. Dabei aßen wir Brötchen mit selbstgemachter Marmelade und sannen gemeinsam darüber nach, wie wir dazu beitragen könnten, dass menschengemachte Grausamkeiten wie die Verbrechen des Dritten Reichs sich niemals wiederholen würden. Gerhard hegte eine abgrundtiefe Abscheu gegenüber Nazis und allem, was ihm in Richtung derartiger Gesinnungen zu deuten schien – und wenn er darüber gesprochen hatte, konnten ihn für einige Zeit selbst die filigransten Zeichnungen von Kuniyôshi, Itchô oder Toyokuni nicht heiter stimmen.

Gerhard erzählte immer, dass er an Bachs Todestag geboren war – wenn auch 179 Jahre später. Er starb am 30. März 2007, nur wenige Wochen, nachdem ich wieder nach Hamburg gezogen war. Auf seinen Briefen verwendete er gerne und oft einen Schneckenstempel als Signatur, dem er handschriftlich oder per Schreibmaschine variierende Motti hinzufügte.

Das Internet berichtet, dass die „Silberecke“ in Mainz Ende 2017 ihr Geschäft aufgegeben hat und dass dort für einige Monate ein Kaffeeladen namens „Kaffeepause“ residierte, der inzwischen allerdings anscheinend bereits ein Nagelstudio zum Nachfolger hat.

Der Breite signierte seine Briefe gerne mit der Abkürzung „i.ae.“ für „in aeternum“.