Dieser Ring aus Tibet ist einer von zweien, die der tibetische Gelehrte Geshe Gedün Lodrö meinen Eltern Ende der 1960er oder Anfang der 1970er Jahre schenkte. Ich habe den Ring vor einigen Jahren aus meinem Elternhaus mitgenommen, nachdem ich begonnen hatte, mich intensiver mit tibetischem Buddhismus zu beschäftigen. Den zweiten Ring bewahrt mein Vater nach wie vor bei sich zuhause auf. Außer diesen beiden Ringen hat Geshe Gedün Lodrö meinen Eltern seinerzeit noch einen schmaleren Silberring mit einem grünen Stein geschenkt, und ich habe als Kind von ihm einen handtellergroßen, tropfenförmigen Kettenanhänger mit neun mattdurchsichtigen Halbedelsteinen und eine gestickte Handtasche geschenkt bekommen. Die Handtasche habe ich als Kind oft beim Spielen benutzt, um darin allerlei Kleinkram hin und her zu transportieren.
Geshe Gedün Lodrö hieß bei uns zuhause nur „Rinpoche“ (རིན་པོ་ཆེ ist Tibetisch für „kostbar“, „teuer“, „edel“ und wird auf Englisch immer mit „precious one“ übersetzt). Die Bestandteile seines Namens bedeuten „Gemeinschaft“ (དགེ་འདུན ) und „intelligent“ (བློ་གྲོས།). Rinpoche war 1967 auf Geheiß des Dalai Lama aus Indien nach Hamburg gekommen, um an der hiesigen Universität zu lehren und zu forschen. Da meine Eltern damals als junges Paar gerade in ein Reihenhaus in der Neukoppel in Hamburg-Langenhorn gezogen waren, das sie abbezahlen mussten, vermieteten sie über mehrere Jahre ein Zimmer zur Untermiete, und einer ihrer Untermieter war von 1967 bis 1968 eben Rinpoche. Als er nach Hamburg kam, sprach er praktisch kein Deutsch. Von meinen Eltern hörte ich später, wie sie mit ihm Deutsch übten, aber auch wie sie ihm zeigten, wie man Gemüse nicht direkt auf dem Herd sondern unter Nutzung eines Topfs oder einer Pfanne zubereitet, wie man am besten eine europäische Toilette benutzt oder wie man ein Paar Jeans anzieht und trägt. Meine Mutter erzählte gerne, wie sehr Rinpoche sich bei Anprobieren und Tragen der Jeans amüsiert hatte, weil das Kleidungsstück für ihn so ganz und gar ungewohnt und unbequem war. Sie berichtete auch, dass er oft lange im Garten herumspazierte und Texte rezitierte und dass er einmal in der U-Bahn jemandem, der ihm ein Kompliment zu einer Jacke machte, die er aus Tibet mitgebracht hatte, diese Jacke einfach geschenkt hatte.
Rinpoche war – jedenfalls erzählen das meine Eltern – gemeinsam mit dem Dalai Lama in derselben Gruppe von Flüchtlingen 1959 aus Tibet geflohen. Ich selbst habe den Bericht über seiner Flucht leider nie von ihm selbst gehört, sondern nur Teile davon von meinen Eltern nacherzählt bekommen. In diesem Zusammenhang – aber auch bei anderen Gelegenheiten, bei denen der Dalai Lama genannt wurde – erwähnte mein Mutter jedes Mal, dass Rinpoche die Bezeichnung „Dalai Lama“ ausgesprochen habe wie „Dalai Lams“. Vor 1959 hatte Rinpoche an der Klosteruniversität Drepung in Lhasa studiert, wo er 1924 geboren war. Über die Geschichte der Klosteruniversität Drepung schrieb Rinpoche später auch eine ausführliche Abhandlung, die 1974 im Franz Steiner Verlag in Wiesbaden als Buch erschien – mit Ausnahme der Einleitungen komplett auf Tibetisch. Das Buch steht bei meinen Eltern im Regal, und jedes Mal, wenn ich es sehe, frage ich mich, ob ich doch noch so viel Tibetisch lernen sollte, dass ich das Buch tatsächlich lesen könnte. Es gibt im Internet sogar eine PDF-Version des Textes. Noch im Exil in Indien erhielt Rinpoche 1961 den Titel „Geshe“, den höchsten Gelehrtentitel der tibetischen Tradition. Der Tibetologe Jeffrey Hopkins schrieb später über ihn: „He was a scholar of prodigious learning, keeping in active memory 1,800 pages of basic texts which in English would be at least 3,600 pages. He told me that he accomplished this by using all spare time (such as in walking from one place to another!) to recite texts to himself“*.
In meiner Erinnerung ist Rinpoche ein Hauch von weinroten Mönchsroben, die freundlich und interessiert in unser Haus wehten (nicht mehr das Haus in der Neukoppel, an das ich mich praktisch nicht mehr erinnere, sondern das Haus, in das wir 1973 umgezogen waren) und immer ein Mitbringsel, ein warmes Lächeln, teilnahmsvolle Aufmerksamkeit und gute Worte für mich hatten. Ich freute mich jedes Mal, wenn ich ihn sah, und ich fühlte mich ihm als Kind auf diffuse Weise sehr verbunden. Als im November 1979 bei uns zuhause das Telefon klingelte, mein Vater antwortete und dann nach Beendigung des Gespräch zu meiner Mutter und mir sagte: „Rinpoche ist tot“, war ich sehr traurig. Rinpoche war überraschend vor seiner Wohnung mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen und gestorben. Gerade zwei Tage zuvor hatte mein Vater ihn noch in seinem Dienstzimmer in der Uni getroffen. Als ich älter wurde, antwortete ich auf die Frage nach meiner Lieblingsfarbe oft: „Weinrot. Und Orange“.
Erst viele Jahre später, als ich Philosophie studierte, begegnete mir das Gedankengut des Buddhismus wieder – meist in den eigenwilligen Interpretationen, die im 18. und 19. Jahrhundert nach Europa geschwappt waren. Noch einmal viele Jahre später, als ich durch eine Verkettung mehrerer Zufälle 2003 in Frankfurt in einen Vortrag eines tibetischen Lehrers über das Herz-Sutra geriet, entdeckte ich auch die praktischen Seiten des Buddhismus und fing an, mich mit Meditation zu beschäftigen. In dieser Zeit fand ich heraus, dass Rinpoche kurz vor seinem Tod 1979 an der University of Virginia eine Reihe von Vorträgen über tibetische Meditation gehalten hatte, die von Jeffrey Hopkins gleich zwei Mal in Buchform herausgegeben worden sind. Die erste Version erschien 1992 unter dem Titel „Walking Through Walls“; die zweite – inhaltlich kaum abweichende – Version 1998 unter dem eher technischen Titel „Calm Abiding and Special Insight“. Ich weiß nicht, warum der Titel der ersten Ausgabe für die zweite Ausgabe geändert worden ist. Ich vermute, dass Rinpoche tatsächlich über die Fähigkeit verfügte, durch Mauern zu gehen. Aber vielleicht gehört das zu den Themen, über die man besser nicht spricht (oder schreibt).
In den mittleren 2000er Jahren nahm ich den Kettenanhänger, den Rinpoche mir geschenkt hatte, einmal mit zu einer Vortragsveranstaltung eines tibetischen Lama. Ich zeigte dem Lama den Anhänger, erzählte die Geschichte dazu und fragte: „Does it mean something?“. Der Lama besah sich das Schmuckstück, murmelte ein paar unverständliche Zeilen, pustete darauf, gab es mir zurück und sagte: „Now, it means something“. Erst später am Abend fiel mir auf, dass ich vergessen hatte nachzufragen, welche Bedeutung der Anhänger nun hatte – und bis heute ist es mir nicht gelungen, diese Frage noch einmal bei geeigneter Gelegenheit bei einem geeigneten Adressaten unterzubringen. Im Laufe der Zeit fiel einer Halbedelsteine einmal aus seiner Fassung, und ich ließ ihn in Hamburg in einem auf Edelsteine spezialisierten Laden an der Osterstraße wieder einsetzen. Die Ladenbesitzerin betrachtete den Anhänger ausführlich und sagte dann zu mir: „Der hat bestimmt eine besondere Bedeutung“. Ich nickte und lächelte schweigend.
In der Einleitung zu seinem Buch über die Klosteruniversität Drepung schrieb Rinpoche: „Die Tibeter haben […] jetzt keine Möglichkeit mehr, diese Traditionen [des klösterlichen Lebens in Tibet], deren Verlust bedauerlich wäre, durch eigenes Erleben gegenwärtig zu halten. Zwar bewahren sie vorerst noch eine deutliche Erinnerung daran, doch wird sich diese in der Zukunft zweifellos trüben, wie bei Sagen und Legenden, in denen Wahres und Falsches nicht mehr zu unterscheiden ist. Andererseits gibt es nichts, was der buddhistischen Lehre mehr zugute käme, als wenn auch in Zukunft junge Leute mit frischem Geist, und besonders solche, die sich auf ein Studium der Philosophie einlassen wollen, an Hand der altbewährten Methode – mit Ausnahme einiger orts- und zeitbedingter Änderungen – die eigenes Erleben überliefernden Traditionen fortführen würden, so wie man Wasser von einem Gefäß in ein anderes gießt oder einen Stein von Hand zu Hand weiterreicht“.
* „Preface“, in Geshe Gedün Lodrö, „Walking Through Walls. A Presentation of Tibetan Meditation“, translated and edited by Jeffrey Hopkins. Co-edited by Anne C. Klein and Leah Zahler (1992), S. 8.