rübensaft

Dieser Zuckerrübensirup der Firma Grafschafter stand seit ich denken kann bei meinen Eltern neben den selbstgekochten Marmeladen auf dem Frühstückstisch. Bei uns zuhause hieß er „Sirup“, aber wenn wir davon aßen, kommentierte mein Vater jedes Mal, dass bei ihm zuhause „Rübensaft“ gesagt worden sei, und meine Mutter ergänzte jedes Mal, dass sie von ihrer Mutter auch die Bezeichnung „Kreude“ kenne.

Damals wie heute kaufte man den Sirup in einem wabbeligen Pappbecher, der mit fortschreitendem Verzehr des Inhalts von außen immer klebriger wurde. Bis vor einigen Jahren war auch der Deckel des Bechers aus Pappe, so dass der Behälter immer instabiler wurde, je leerer er war. Inzwischen sitzt auf dem identischen Pappbecher ein Plastikdeckel, und es gibt den Sirup auch in einer Plastikquetschflasche. Diese Flasche nutze ich in letzter Zeit gerne, wenn ich den Sirup als Zutat beim Brotbacken verwende. Sie ermöglicht eine deutlich bessere Dosierung als der Pappbecher – und eine schmierärmere Verwendung. Bis heute liebe ich Sirup besonders als Brotaufstrich auf warmem Toast.

Als „Rübensaft“ begegnete mir der Sirup auf dem Frühstückstisch meiner Großmutter väterlicherseits, die von uns „Oma“ genannt wurde. Sie aß gerne sehr weiches Graubrot mit – wie sie sagte – „weißem Käse und Rübensaft“, also mit – wie ich sagte – Quark und Sirup. Dazu verstrich sie auf dem Brot erst üppig Quark, über den sie dann mit einem Messer den Sirup verteilte. Anschließend schnitt sie das Brot in kleine Häppchen, die sie „Plöckchen“ nannte. Am Ende dieser Vorbereitung waren ihre zehn Finger ebenso wie das Frühstücksbrett, das Messer, der Quark- und der Sirupbehälter und oft auch der umgebende Tisch reichlich mit Quark und Sirup verschmiert. In meiner Erinnerung wirtschaftete Oma oft noch lange nach dem Verzehr des Brotes mit abgespreizten, quark- und sirupklebrigen Fingern in der Küche herum, wobei sie alle Gegenstände und Gerätschaften sorgfältig mit den Handballen fasste, um Verschmutzungen zu vermeiden. Ihr damaliger Lebensgefährte – ein ehemaliger Bäckermeister, der von uns aufgrund seines Wohnorts „Opa Alfeld“ genannt wurde – strich bei der Zubereitung derselben Stulle zuerst den Sirup auf das Brot und verteilte dann erst den Quark darüber. Beide kabbelten sich sehr oft, sehr ausführlich und sehr liebevoll darüber, welche Methode das schmackhaftere Brot hervorbrachte.

Oma trug in der Küche immer einen Kittel über ihrer Kleidung, und bei ihr gab es viele Dinge zu essen, die es bei uns zuhause nicht gab. Sie machte die besten Kartoffelpuffer der Welt, von denen meine Schwester und ich so viele essen durften, wie wir konnten. Dazu gab es selbstgemachtes Apfelmus und viel Zucker und Zimt. Den Rekord im Verzehr von Kartoffelpuffern hielt meine Schwester mit 20 Stück. Oma kochte auch einen hervorragenden Milchreis, den sie – anders als bei uns zuhause – mit viel zerlassener, brauner Butter servierte. Omas besondere Leckerei zum Frühstück – oder auch zu anderen Tageszeiten, wenn sie das Gefühl hatte, das eine tüchtige Portion Kalorien uns Kindern gut tun würde – war das sogenannte „Zuckerei“: Rohes Ei, aufgeschlagen mit reichlich Zucker. Meine Schwester liebte Zuckerei, aber mir verursachte die schleimige Konsistenz als Kind einen so heftigen Würgereiz, dass ich daran allenfalls nippen konnte. Ich mochte damals auch keine Schlagsahne, und bis heute verabscheue ich Zabaione. Ich hatte immer das Gefühl, dass Oma es mir persönlich sehr übel nahm, dass mir ihr Zuckerei nicht schmeckte.

Meine Mutter war sehr skeptisch gegenüber den Kochkünsten meiner Oma. Sie schimpfte darüber, dass Oma alles in „weißer Sauce“ ertränke und an alles viel „gute Butter“ tue. Mir schmeckten Omas Gemüsegerichte mit Béchamelsauce gut, und Pellkartoffeln mit Butter gehören bis heute zu meinen Lieblingsgerichten. Meine Oma nannte meine Mutter manchmal „hysterisch“, nachdem meine Mutter einmal darauf bestanden hatte, dass ich als kleines Kind zum vereinbarten Zeitpunkt zu meinen Eltern zurückfuhr – und nicht erst ein paar Tage später, was meine Oma sich überlegt hatte, weil sie kurzentschlossen noch gemeinsam mit mir andere Verwandte besuchen wollte. Meine Oma verstand auch nicht, dass meine Eltern sich nach einer Reise nach Indien gegenseitig mit „-ji“ ansprachen und – gemeinsam und jede/r für sich – gerne in ferne Länder flogen. Sie hätte es am liebsten gesehen, wenn wir immer nur alle gemeinsam mit dem Flugzeug geflogen wären. „Dann stürzt Ihr wenigstens alle zusammen ab“, sagte sie zur Erklärung.

Meine Oma stand in regen Kontakt mit ihren Freundinnen in Bad Oeynhausen (wo sie bis in die 1990er Jahre wohnte) und mit ihrer Verwandtschaft in der weiteren Umgebung. Mit ihren Freundinnen spielte sie Rommé, und ich durfte als Kind dabei zugucken. Ich lief um den Tisch herum von einer zur anderen und verfolgte, wie die Damen ihr jeweiliges Blatt ausspielten. Einmal tadelte mich einer der Freundinnen streng, weil sie argwöhnte, ich habe ihr in die Hand geschaut, um ihre Karten dann an Oma weiterzuflüstern. Rommé spielten Oma und ich auch oft, wenn wir zu zweit alleine waren. Sobald ich das Addieren und Multiplizieren – und damit das Reizen – beherrschte, lernte ich von Oma auch Skat und durfte mit ihr und mit Opa Alfeld als „dritter Mann“ mitspielen. Meine Mutter hatte eine tiefe Abscheu gegen Kartenspiele im allgemeinen und gegen Skat im besonderen – weil sie, wie sie sagte, dadurch immer an laute, alkoholisierte Männerabende im Haus ihres Stiefvaters erinnert wurde. Als ich älter war, versuchten wir als Familie einmal, uns Bridge beizubringen, kamen damit aber nie über die Anfänge hinaus.

Auf Ausflügen zur Verwandtschaft fuhren Oma und ich oft mit Opa Alfeld in seinem Auto mit. Als Kind wurde mir im Auto regelmäßig schlecht. Irgendwann einmal hatte Oma irgendwo gelesen, dass Petersilie gegen Reiseübelkeit helfen solle. Sie band daraufhin meiner Schwester und mir jeweils ein Bündel Petersilie um den Hals und verfrachtete uns so ausgestattet auf die Rückbank des Autos. Meiner Schwester, der nie schlecht wurde, wurde natürlich nicht schlecht*. Ich musste würgen, sobald das Auto sich in Bewegung gesetzt hatte, und der beißende Petersiliengeruch machte die Übelkeit sehr schnell sehr viel schlimmer, so dass wir binnen Minuten an den Straßenrand fahren mussten, damit ich aussteigen und mich übergeben konnte. Ich vermute im Nachhinein, dass Oma den Artikel missverstanden hatte und ich die Petersilie vor der Fahrt hätte essen oder während der Fahrt hätte kauen müssen.

Bei Oma aßen wir grundsätzlich in der Küche am Küchentisch. In der Wohnung, in der sie wohnte, als ich klein war, gab es für ganz besondere Gelegenheiten noch eine „gute Stube“. Dort waren die Möbel den größten Teil des Jahres mit Tüchern abgedeckt**, und die Jalousien waren heruntergelassen. Es war kühl und roch etwas muffig. In der Küche war es warm und roch immer lecker. Am Küchentisch führte Oma auch ihr Haushaltsbuch, in dem sie jeden Tag alle ihre Einnahmen und Ausgaben akribisch notierte. Es ärgerte sie, wenn eine Summe nicht aufging oder wenn ihr ein Bon fehlte, und sie gab nie auf, ehe sie den Fehler gefunden oder die Lücke aus der Erinnerung – manchmal mit meiner Hilfe – geschlossen hatte. Am Küchentisch las Oma auch die Westfälischen Nachrichten, die sie abonniert hatte, und die Fernsehzeitschrift, die sie bezog, weil sie – anders als wir zuhause – einen Fernseher besaß. In allen Zeitschriften und Zeitungen las sie nicht nur praktisch alle Artikel, sondern machte auch immer alle Kreuzworträtsel, las alle Horoskope und schnitt anschließend die Artikel aus, die sie für relevant für Menschen in ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis hielt. Noch viele Jahre später schickte sie uns dicke Briefumschläge mit Zeitungsausschnitten, die wir oft ratlos vor- und rückwärts wendeten, um herauszufinden, welchen Artikel Oma aus welchen Gründen für wen von uns für spannend gehalten hatte. Manchmal waren die Artikel deutlich mit „ANJA!“ (oder anderen intendierten Adressaten) gekennzeichnet – manchmal aber auch nicht.

Oma hatte viele Überzeugungen, was aus ihrer Erfahrung ein gutes Leben ausmachte. „Es gibt nichts schöneres, als mit anderen zusammen zu singen“, sagte sie – die selbst viele Jahre im Chor gesungen hatte. Oder: „Wenn Du Akkordeon spielst, bist Du immer überall willkommen“. „In der Tanzstunde musst Du Dir die Männer suchen, die größer sind als Du“, riet sie mir – da sie selbst als junges Mädchen überdurchschnittlich groß gewesen war und nie einen Mann geheiratet hätte, der sie nicht überragte. „Und – hast Du einen festen Freund?“, fragte sie später jedes Mal, wenn sie mich sah, und noch später: „Willst Du nicht ein Kind haben? Es würde mir auch nichts ausmachen, wenn Du keinen Mann dazu hast“. Über viele Jahre hinweg ärgerten mich diese Kommentare sehr, weil ich sie als Geringschätzung erst meines Studiums und dann meiner Arbeit empfand, die mir damals wichtiger waren als Liebesbeziehungen oder Familienplanung. Erst viel später habe ich begriffen, dass sie aus dem, was sie glücklich gemacht hatte, auf das schloss, was mich glücklich machen könnte.

„Die Hauptsache“, sagte sie immer häufiger zu mir, je älter sie wurde, „ist, dass Du glücklich bist in Deinem Leben.“


* Meine Schwester merkt hierzu an: „Meine Erinnerung an die Petersilienfahrt: mir wurde beim Autofahren *immer* schlecht (beim Fliegen nicht) – und die Petersilie um den Hals führte dazu, dass ich mich in einem Tal seitlich der Autobahn (vermutlich war es eine Böschung) sprudelnd übergeben musste und Jahre gebraucht habe, bis mir nicht schon beim leisesten Anflug von Petersilie übel wurde…“.

** Mein Vater merkt hierzu an: „Ich habe NIE bei meiner Mutter mit Tüchern zugedeckte Möbel gesehen!?!?“.

Anmerkung: Den in diesem Artikel erwähnten Markenartikel haben die Betroffenen bzw.  ich selbst zum jeweiligen Zeitpunkt jeweils selbst zu regulären Preisen erworben. Ich schreibe über das Produkt, weil es mir etwas bedeutet. Materielle Vorteile habe ich durch die Erwähnung des Produkts nicht.