Diese Schere hat mein Vater kürzlich in der Schreibtischschublade meiner Mutter wiedergefunden, als er Unterlagen aus ihrem Nachlass sortierte. Wir haben gemeinsam rekonstruiert, dass ich sie vermutlich zu meinem Schulbeginn 1977 mit meiner ersten Federtasche geschenkt bekommen habe. Die Gravur auf der Schere hat meine Mutter seinerzeit durch einen Labormitarbeiter im Botanischen Institut der Universität Hamburg machen lassen, der dort auch Geräte kennzeichnete. Das Botanische Institut, in dem meine Mutter arbeitete, befand sich damals noch in der Jungiusstraße in der Nähe der U-Bahn-Haltestelle Stephansplatz. 1981 zog das Institut um in den neuen botanischen Garten in Klein Flottbek. Das Gebäude an der Jungiusstraße gehört inzwischen der ZEIT-Stiftung und beherbergt heute die Bucerius Law School.
Bevor ich in den Kindergarten kam, nahm meine Mutter mich häufig mit in die Stadt, wenn sie im Institut Vorlesungen oder Übungen halten musste. Als Kind gab es für mich „Mamis Uni“ – das Botanische Institut an der Jungiusstraße – und „Papis Uni“ – die Gebäude der Pädagogischen Fakultät am Von-Melle-Park. Wenn ich mit in „Mamis Uni“ fuhr, brachte meine Mutter mich oft zur Mutter einer Arbeitskollegin, die dann auf mich aufpasste. Die Arbeitskollegin und ihre Mutter hießen beide Friedel Feindt. Als ich klein war, wurden die beiden dadurch unterschieden, dass wir zu der Mutter „Frau Feindt“ und zu der Tochter „Fräulein Feindt“ sagten. Später, als die Anrede „Fräulein“ aus der Mode kam und die Tochter auch „Frau Feindt“ genannt werden wollte, hießen sie zur Unterscheidung die „alte“ und die „junge“ Frau Feindt.
Frau Feindt und Fräulein Feindt wohnten in einer großen „Hamburger Knochen“-Wohnung in der Karolinenstraße 6 auf der linken Seite des Hauses. Als Kind faszinierten mich der Geruch im Treppenhaus, das Klappern der alten Fahrstuhltür, die Großzügigkeit der Schiebetüren und der hohen Räumen und das Geheimnis der langen Flure mit ihren vielen Türen. Das Haus, in dem ich jetzt in Hamburg wohne, wurde in derselben Zeit kurz nach 1900 gebaut, und meine Wohnung ist genauso geschnitten wie die damalige Wohnung von Feindts. Vor einigen Jahren besuchten wir Freunde, die ebenfalls in der Karolinenstraße 6 wohnten, vermutlich ein oder zwei Stockwerke tiefer als Feindts seinerzeit. Gestern trafen sich die Kinder der Grundschule meines Sohns genau vor dem Haus Karolinenstraße 6, um ihre Startnummern für den Zehntelmarathon entgegenzunehmen.
Mit Frau Feindt saß ich oft im vorderen rechten Zimmer der Wohnung direkt an der Tür zum Balkon. Wir blickten zusammen hinaus auf die Karolinenstraße und die Karolinenkirche und unterhielten uns. Frau Feindt fragte mich nach Dingen, die ich erlebt hatte oder die mich interessierten, und ich fragte sie nach Dingen, die sie erlebt hatte oder die sie interessierten. Unsere Gespräche waren – jedenfalls kommt mir das in der Erinnerung so vor – gleichberechtigt und ernsthaft, und der Altersunterschied zwischen uns war dabei bedeutungslos. Manchmal spielte Frau Feindt mir etwas auf dem Klavier vor und sang dazu. Das Klavier stand ebenfalls im vorderen rechten Zimmer an der geschlossenen Schiebetür zum nach hinten gelegenen Nachbarzimmer. Ich erinnere mich an „Alle Vögel sind schon da“ und an viele Strophen der „Vogelhochzeit“, aber auch an Etüden von Carl Czerny, an denen Frau Feindt mir erklärte, wie wichtig Technik und Übung beim Klavierspielen sind.
Jedes Jahr am Buß- und Bettag besuchten wir Feindts mit der ganzen Familie, wenn wir von unserem alljährlichen Besuch auf dem Hamburger Dom zurückkamen. Auf den Dom gingen wir nur im Winter und immer am Buß- und Bettag nachmittags. Wir starteten am Eingang an der Feldstraße, gingen im Uhrzeigersinn über das Heiligengeistfeld, kauften unterwegs ein paar Lose (bei denen wir nie etwas gewannen) und eine Tüte gebrannte Mandeln, und meine Schwester und ich durften jeweils genau ein Fahrgeschäft besuchen. Ich mochte am liebsten die Geisterbahnen und die Spiegelkabinette. Viele Jahre später gab ein Nachbar meiner Eltern uns manchmal Chips für alle möglichen Achterbahnen und Karusselle, die er selbst bekommen hatte, weil er als Kameramann auf dem Dom gedreht hatte. Bevor wir am Ausgang zur Karolinenstraße den Dom wieder verließen, kauften wir noch eine Tüte Schmalzgebäck, die wir – noch warm – als Gastgeschenk für Frau Feindt und Fräulein Feindt mitbrachten.
Fräulein Feindt war – wie meine Mutter – Botanikerin. Ihr Schwerpunkt war botanische Archäologie (oder archäologische Botanik?), und sie reiste deswegen oft in die Türkei und in andere Länder im Mittleren Osten. In dem Haus in der Karolinenstraße war damals im Erdgeschoss der Laden eines türkischen Lebensmittelhändlers, mit dem Fräulein Feindt sich gerne auf Türkisch unterhielt. Als ich in der Mittelstufe ein Praktikum am Archäologischen Institut in Hamburg machen wollte, half Fräulein Feindt mir, einen Kontakt zu einem Professor dort herzustellen. Zwei Wochen lang sortierte ich Keilschrifttäfelchen und Bibliothekskarteikarten. Das Archäologische Institut roch nach Wüstensand und trockenem Ton. Das Botanische Institut roch nach den chemischen Lösungen, in denen Pflanzen konserviert wurden, und nach Linoleum.
Frau Feindt und Fräulein Feindt besuchten uns jedes Jahr am zweiten Weihnachtstag zum Mittagessen. Es gab jedes Mal mindestens vier Gänge. Frau Feindt sammelte Schildkröten, so dass wir ihr jedes Jahr ein neues Exemplar schenkten, das wir von irgendeiner Reise mitgebracht hatten. Fräulein Feindt bekam oft ein Glas selbstgekochte Marmelade oder Kompott. Nach dem Mittagessen hielt Frau Feindt einen Mittagsschlaf in unserem Gästezimmer, während Fräulein Feindt und meine Mutter sich über Personen und Ereignisse aus ihrem Institut austauschten. Später am Nachmittag spielten wir alle zusammen Gesellschaftsspiele. Viele Jahre lang war „Cluedo“ unser Lieblingsspiel. Als ich 10 oder 11 Jahre alt war, fing ich an, selbst Spiele zu entwickeln. Für einige Jahre wurde das von mir erfundene „Hotelspiel“, in dem man als Page in einem Hotel Wünsche aller Gäste erfüllen musste, unser neues Lieblingsspiel. Als Frau Feindt und Fräulein Feindt älter wurden, sagten sie den Weihnachtstermin manchmal ab, weil sie erkältet waren und uns nicht anstecken wollten.
Frau Feindt und Fräulein Feindt trugen beide Kopftücher, wenn sie draußen unterwegs waren. Als Kind beeindruckte es mich besonders, wie Fräulein Feindt vor dem Spiegel im Hausflur unseres Elternhauses ihr Kopftuch richtete und sorgfältig unter dem Kinn verknotete, ehe sie wieder auf die Straße ging. Sie humpelte und ging immer auf einen Spazierstock gestützt. Der Grund dafür war ein Bein- oder Hüftbruch, den sie als junge Frau bei einem schweren Sturz erlitten hatte, als sie versucht hatte, eine gerade abfahrende Straßenbahn doch noch zu erreichen. Irgendjemand bemerkte einmal, dass diese Gehbehinderung auch der Grund dafür gewesen sei, dass Fräulein Feindt niemals geheiratet hatte. Als 1978 die Hamburger Straßenbahn abgeschafft wurde, hing das in meiner Wahrnehmung als Kind auf eigenartig schicksalhafte Weise damit zusammen, dass Fräulein Feindt unverheiratet geblieben war. Mein Vater fuhr damals mit mir extra in die Stadt, um in einem der letzten Straßenbahnzüge mitzufahren.
Auf die Schere war ich in der Schule besonders stolz, weil kein anderes Kind in meiner Klasse eine Mutter hatte, die in ihrem Institut einen Namen auf eine Schere gravieren lassen konnte. Irgendwann hatten dann alle anderen Kinder spitze Scheren, mit denen sich bestimmte Bastelarbeiten besser erledigen ließen. Meine Eltern wollten mir nicht noch eine Schere kaufen, und meine Mutter zeigte mir, wie ich auch mit meiner abgerundeten Schere einen Schnittanfang mitten in ein Stück Papier praktizieren konnte. Ich ließ meine Schere trotzdem zuhause und lieh mir in der Schule spitze Scheren von anderen Kindern aus. Auch als ich zum Studium aus Hamburg wegging, nahm ich die Schere nicht mit.
Wenn ich bei Frau Feindt zu Besuch war, gab es oft Eis zum Nachtisch. Jedes Mal warnte sie mich, dass das Eis kalt sei und man es deshalb nicht zu schnell essen dürfe. Man müsse es, sagte sie immer, zuvor „schön im Mündchen anwärmen“.
[…] [Kurz darauf. folienstern an kneteeis:] „Schön im Mündchen anwärmen!“ […]
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Sehr geehrte Frau Hartmann , Ihren Bericht „Schere“ aus April 2018 habe ich zufällig im Internet gefunden und dieser hat mich zutiefst berührt. Ich war von 1971-1975 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Mikrobiologie des Botanischen Instituts und während der Zeit regelmäßig zu Gast im Hause Feindt. Meistens zusammen mit einem Kollegen , Jaroslav Sonka , der 1969 aus Tschechoslowakien flüchten konnte . Ich selber kam aus den Niederlanden um in der Mikrobiologie zu promovieren. Ihre Mutter habe ich auch gekannt. Wie Sie die Haushalt bei den Damen Feindt beschrieben haben , so habe ich sie auch erlebt und das hat mich , wie gesagt zutiefst berührt. Leider habe ich nach meinem Ausscheiden 1975/aus dem botanischen Institut und Wechsel in eine Pharma Firma in Norderstedt allmählich den Kontakt zu den Damen verloren . Als ich in 1981 wieder in meine Heimat zurückkehrte habe ich Frau Feindt nie mehr gesehen oder gesprochen. Ich nehme an, Sie lebt inzwischen nicht mehr, aber wenn Sie vielleicht wissen , wo Sie ruht , würde ich das sehr gerne vernehmen . Mit freundlichem Gruß, Dirk Groenewegen / Parklaan 80 / 3722 BH Bilthoven / Niederlanden / M: +31-653-195 046
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Lieber Herr Groenewegen, was für ein netter Kommentar, vielen Dank! Ich versuche etwas darüber in Erfahrung zu bringen, wann Frau Feindt verstorben und wo sie beigesetzt ist. Ich melde mich wieder! Herzliche Grüße aus Hamburg!
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