Dieser silberne Kettenanhänger in Elefantenform stammt aus den Jahren in der Mittel- und Oberstufe, in denen ich Elefanten sammelte. „Alles, was mehr als drei ist, ist eine Sammlung“, sagte mein Vater. Er sammelte Science Fiction-Bücher. Meine Schwester sammelte Plüschgorillas. Meiner Mutter, die ja von Berufs wegen Pflanzen sammelte, schenkten wir Löwen für eine Löwensammlung, weil ihr Sternzeichen Löwe war. Es gab auch Sammlungen von Gummibändern, Geschenkpapier, leeren Marmeladengläsern, vollständigen Jahrgängen der Kinderzeitschrift Rasselbande aus den 1950er Jahren, Krippen, Marionetten, Briefmarken, Apfelrezepten, Märchenbüchern, Fotos altägyptischer Schreiberstatuen und von allem, was mit Flugzeugen zu tun hatte.
Woher der Elefantenanhänger ursprünglich kam, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, er war schon vor Beginn der Elefantensammlung in meinem Besitz. Meiner Erinnerung nach habe ich ihn gelegentlich an einer silbernen Halskette getragen. Irgendwann in dieser Zeit besaß ich auch zwei zum Anhänger passende winzige elefantenförmige Ohrstecker. Einen davon habe ich im Februar vorletzten Jahres beim Aufräumen auf dem Dachboden meiner Eltern wiedergefunden.
In der zehnten Klasse fuhren wir – wie damals fast alle Hamburger Schulen – auf Skifreizeit. Zur Vorbereitung hatten wir wochenlang eine unserer Sportstunden mit Skigymnastik verbracht. Skier und Skischuhe liehen diejenigen, die – wie ich – zum ersten Mal Skilaufen gingen, aus der Skisammlung der Schule aus. Die Stiefel rochen muffig. Meine Skier waren orange-blau gemustert. Wir reisten mit dem Zug nach Österreich. In welches Skigebiet wir fuhren, weiß ich nicht mehr. Ich trug die Kette mit dem Elefantenanhänger.
In der Bahn schoben wir die Sitze im Zugabteil zu einer großen Liegefläche zusammen. Damit passten ins Abteil eher zwölf als sechs Personen. Es war kuschelig, warm und irgendwann auch schummerig. Ich saß zwischen einem der schlausten und einem der sportlichsten Jungen unserer Klasse. Der schlaue interessierte mich schon länger, weshalb ich versuchte, mit dem Ruckeln des Zuges näher an ihn heranzurutschen. Er rutschte weg. Ich rutschte näher. Er rutschte weg. Irgendwann legte von der anderen Seite der sportliche Junge den Arm um meine Schulter. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter. Wir saßen beide sehr lange da, ohne uns zu bewegen.
Das Skilaufen machte mir Spaß. Mit gefielen die Art der Bewegung, die Sonne, der blaue Himmel und die klare Luft. Die Berge, den Schnee, die Kälte und die feuchtverschwitzten Skiklamotten am Abend (und noch am nächsten Morgen) fand ich furchtbar. Der sportliche Junge war auf den schwierigen Pisten unterwegs. Ich übte auf den kurzen, flachen Abfahrten. An einem der ersten Abende gab ich dem sportlichen Jungen die Kette mit dem Elefantenanhänger. Er lächelte und fragte: „Für mich?“. Er hatte wache, durchsichtig blaue Augen.
Irgendjemand aus der Klasse entdeckte im Laufe der Reise einen volkstümlich anmutenden Schlager, in dessen Refrain es hieß: „I‘ hab‘ ein fesches Mädel, das hat die schönsten Knödel“. Ich erinnere mich an die Melodie, aber nicht mehr an den Rest des Textes. Das Lied lief jeden Abend in Endlosschleife in unserem Gruppenraum, und die ganze Klasse grölte mit. Als wir nach zehn Tagen nach Hamburg zurückkamen, spielten wir das Lied in maximaler Lautstärke auf einem Cassettenrecorder, den wir bei unserer Einfahrt in den Bahnhof Hamburg-Altona aus dem Fenster des Zuges hielten.
Nach dem Ende der Skifreizeit waren Schulferien. In den Ferien traf ich den sportlichen Jungen noch zwei Mal. Einmal besuchte ich ihn bei ihm zuhause, einmal besuchte er mich bei mir zuhause. Bei ihm saßen wir im Wohnzimmer seiner Eltern auf dem Sofa. Bei mir saßen wir im Wohnzimmer meiner Eltern auf dem Sofa. Wir hielten uns im Arm, sahen uns lange wortlos in die Augen und küssten uns viel. Ein oder zwei Mal rief er mich an. Da das Telefon im Schlafzimmer meiner Eltern stand, saß ich beim Telefonieren auf ihrem Bett. Ich weiß nicht mehr, worüber wir geredet haben.
Als die Schule nach den Ferien wieder begann, verbrachte der sportliche Junge die Pausen mit einer Gruppe von Jungen aus unserer und einer anderen Klasse. Die Jungen standen in einer Ecke des Schulhofs zusammen. Ich stand mit anderen in einer anderen Ecke. Gelegentlich schaute ich zu ihm hinüber. Gelegentlich schaute er zu mir hinüber. Ich rief ihn nicht mehr an. Er rief mich nicht mehr an. Einige Wochen später passte er mich auf dem Weg auf den Schulhof ab und sagte: „Das möchte ich Dir jetzt lieber zurückgeben“. Aus seiner geschlossenen Hand ließ er die Kette mit dem Elefantenanhänger in meine Hand gleiten. Ich war erleichtert.
„Elefanten vergessen nicht“, heißt es.
Das ist eine schöne Geschichte.
(Ich habe früher Schildkröten gesammelt.)
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